Martin Schäuble: Cleanland
Von Rim Chebak, Felix Heeßel und Robin Mintgen
Inhalt
Die 15-jährige Schilo lebt zusammen mit ihrer Mutter und Großmutter in Cleanland – einem Land, welches besonders durch seine Reinheit gekennzeichnet ist. Diese wird anhand digitaler und gesetzlicher Maßnahmen gewährleistet, um die Menschen vor Krankheitsausbrüchen jeglicher Art zu schützen. Da die Gesundheit höchste Priorität hat, wird der Kontakt zwischen den Menschen reduziert, gesundheitliche Werte werden ständig überwacht und Risikogruppen werden zuhause räumlich abgeschottet.
Anfangs gibt sich Schilo mit den Maßnahmen des Ministeriums für Reinheit, der höchsten Autorität in Cleanland, zufrieden – schließlich sollen diese dem Schutz der Gesundheit aller dienen. Doch beginnt sie zunehmend das Ministerium und dessen Regeln zu hinterfragen, da ihre beste Freundin Samira und deren Familie die Schattenseiten des Regimes erfahren. Als Schilo Toko kennenlernt, einen Cleaner, der nachts Wohnungen desinfiziert, und sich in ihn verliebt, muss sie sich endgültig entscheiden: Sind ihr Gesundheit und Sicherheit wichtiger als Freiheit?
Fachwissenschaftliche Überlegungen
Der Wohnwagen erinnert mich an das Buch von Opa. Dort war es ein uralter Bus, doch er stand genauso verlassen im Nirgendwo. Und was hat der Buchjunge gemacht? Er hat sich im Bus einquartiert, also war es ja so etwas wie ein Wohnwagen für ihn. Ich schiebe den Gedanken beiseite, denn die Geschichte ging ja nicht gerade gut aus. (S. 186f.)
Diese Passage aus Martin Schäubles Cleanland referiert auf den Roman Into the Wild von Jon Krakauer. Die Hauptfigur in Krakauers Text bricht auf in die Wildnis, um fernab von modernen zivilisatorischen Einflüssen, auf sich allein gestellt, nach individueller Freiheit und Entfaltung zu suchen. Die Handlung endet mit dem Tod des Protagonisten in der Natur, wo er ohne medizinische Versorgung an einer Vergiftung stirbt; er bezahlt seine gewonnene Freiheit mit dem Leben. Im intertextuellen Verweis offenbart Schäuble das zentrale Thema von Cleanland: Das Spannungsfeld zwischen individueller Freiheit und (gesundheitlicher) Sicherheit in einer Welt, die von pandemischen Zuständen geprägt ist. Der typischen Struktur einer Dystopie folgend baut die Handlung von Cleanland auf einem zurückliegenden Ereignis auf, durch das sich alles ins Negative gewendet hat: die „Große Pandemie“ (S. 51); einem weiteren Merkmal der Dystopie entsprechend steht der Hauptfigur eine repressive herrschende Klasse gegenüber, das „Ministerium für Reinheit“ (S. 5), das den Alltag der Menschen durch „Die fünf Gesetze der absoluten Reinheit (GaR)“ (S. 5) einschränkt.
Der wiederkehrende thematische Bezug des Textes zur realweltlichen Corona-Pandemie, die den Alltag der jüngeren Vergangenheit bis in die Gegenwart in erheblichem Maße prägt, ist dabei unverkennbar. Dahingehend erste Hinweise gibt bereits vor der Lektüre das Cover des Romans, das im Profil die Silhouette eines menschlichen Kopfes mit einer medizinischen Maske zeigt. Als ständiger Begleiter in Bus und Bahn, beim Einkaufen und auf der Arbeit kann die Maske als Symbol für die Corona-Pandemie gelten, wodurch Cleanland über das Titelbild mit den realweltlichen pandemischen Zuständen verknüpft wird. Der vermittelte Ersteindruck konkretisiert sich im Haupttext, in dem Schäuble motivisch eine Vielzahl von Infektionsschutzmaßnahmen aufgreift, die das politische System in der erzählten Welt durch ihre umfassenden Eingriffe in das Privatleben als totalitäres charakterisieren.
Meist finden die überspitzt dargestellten Vorschriften ihre Entsprechung in der Lebenswelt der Lesenden: Schutzanzüge („Protector“), Gadgets für die Erfassung von Gesundheitsdaten („Controller“) und offiziell registrierte Kontaktpersonen („Social Health“) wecken Assoziationen mit Masken, Corona-Warn-App und Kontaktbeschränkungen; Abstandsregeln, Desinfektion und Quarantäneregeln scheinen direkt der Realwelt entnommen zu sein. Mit einem Markennamen und zugehörigem Slogan versehen (etwa „Protector – für ein gesundes Miteinander©“ [Hervorh. i. O.], S. 8) werden die Maßnahmen in der erzählten Welt verankert. Im Text präsentiert Schäuble sie zumeist als limitierende Eingriffe in den Alltag, wodurch sich in ihnen der thematische Schwerpunkt von Cleanland als Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit manifestiert. Immer wieder sehen sich die Figuren Situationen gegenüber, die Einschränkungen ihres privaten und öffentlichen Lebens erfordern, um solidarisch die Gesundheit anderer Menschen in Cleanland zu schützen – so z. B. das vorzeitige Ende eines Clubbesuchs aufgrund des defekten Schutzanzugs einer Besucherin:
Gelbe Linien am Boden zeigen die Mindestabstände. Ich erkenne ein paar von den Leuten, die um uns herum getanzt haben. Alle Schutzanzüge blinken rot, alle müssen in Quarantäne. Unser Barkeeper steht ebenfalls dort. Er dreht sich zu uns. „Ist eure Party auch schon vorbei?“ (S. 14)
Auch die Hauptfigur Schilo findet sich in diesem Spannungsfeld aus Freiheit und Sicherheit wieder. Die Schülerin lebt zusammen mit ihrer Mutter und Großmutter und verbringt die Freizeit mit ihrer besten Freundin Samira als registrierter Kontaktperson. Mit ihr als personaler Ich-Erzählerin erleben die Leser:innen die Handlung chronologisch aus einer kindlich-jugendlichen Perspektive und können unmittelbar am aufkeimenden Reflexionsprozess in Bezug auf die gesellschaftlichen Zustände in Cleanland teilhaben. Bereits in Schilos familiären Verhältnissen ist dabei thematisches Konfliktpotenzial angelegt. Ihre Mutter arbeitet als Repräsentantin des Systems im „Ministerium für Reinheit“ (S. 31), das für die Hygienevorschriften verantwortlich ist, ihre Großmutter hingegen lebt in der Wohnung isoliert im „Saferoom“ und kann nur über technische Hilfsmittel oder durch Hygienescheiben mit der Außenwelt in Kontakt treten. Schilo selbst scheint die Einschränkungen, die sich für sie und ihr Umfeld ergeben, zunächst nicht zu hinterfragen und lebt ein unbeschwertes Leben zwischen Schule und freizeitlichen Aktivitäten.
Erst durch die Erfahrungen, die sie im Verlauf der Handlung mit dem Cleaner Toko sammelt, und nicht zuletzt der Inhaftierung ihrer Freundin Samira in der „Motivation Academy“ – einer Umerziehungsanstalt für Menschen, die sich nicht an die Hygienevorschriften halten – beginnt Schilo, das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit in Cleanland wahrzunehmen und zu reflektieren. Sie zeigt sich im Zwiespalt zwischen den Regeln und ihren eigenen Vorstellungen – hält sie sich an die Vorgaben, weil sie es muss oder weil sie wirklich will?
Und vielleicht ist das alles richtig so. In Cleanland lebe ich sicher und gesund. (S. 165)
Eine vollständige Loslösung von den Vorgaben vollzieht Schilo nicht. Selbst nach ihrer Flucht aus Cleanland in die „Sicklands“, die der Realwelt ohne Corona-Einschränkungen nachempfunden sind, trauert Schilo den Schutzmaßnahmen nach:
Nur eines weiß ich. Ich vermisse meinen Schutzanzug, den Protector […]. (S. 194)
Was der Roman somit nicht liefert – und vermutlich auch gar nicht liefern möchte – ist eine abschließende Wertung der im Text kritisch konnotierten Infektionsschutzmaßnahmen, die in einem repressiven totalitären System kulminieren. Geschuldet ist dies möglicherweise auch dem abruptem und etwas gehetzt wirkendem Ende; eine eigenständige Reflektion des Romans durch die Leser:innen ist in jedem Fall erforderlich: „Perpetuiert er eine gefährliche Konzeptualisierung der Coronakrise, die die […] ergriffenen Maßnahmen als Eruierung des liberalen Staatssystems wahrnimmt“ (Tönsing 2021, 162) oder hat der Autor – wie er selbst in einem Interview anmerkt – genug „Bremsblöcke“ (F.A.Z. 2020, Min. 20) eingebaut, um eine dahingehende Interpretation zu verhindern?
Didaktische Überlegungen
Die Dystopie Cleanland knüpft auf inhaltlicher Ebene an die Lebensrealität der Schüler:innen während der Corona-Pandemie an. Im Roman wird thematisiert, wie das Leben der Figuren in einer Welt aussieht, in der die Gesundheit über alles gestellt wird und soziale Kontakte und andere Aktivitäten, die potenziell die Gesundheit gefährden, stark eingeschränkt werden. So werden Schüler:innen durch die Inhalte des Romans in besonderer Weise zu einer Selbstreflektion in Bezug auf die aus einer Pandemie resultierenden Frage nach dem Verhältnis „Freiheit vs. Sicherheit“ angeregt. Cleanland bietet vor dem Hintergrund der vergangenen und nach wie vor präsenten Corona-Pandemie einen Anlass, die gesellschaftlichen Verhältnisse dieser Zeit aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Das Aufgreifen der aktuellen Thematik begünstigt zudem, dass sich alle Schüler:innen mit den Geschehnissen im Text identifizieren können. So bietet der Roman insbesondere durch die Parallelen zur Corona-Pandemie die Möglichkeit, Bezüge zur Lebensrealität herzustellen, individuelle Erfahrungen und Emotionen einzubeziehen und sich mit den Protagonist:innen zu identifizieren.
Im Rahmen der Dystopie werden die weitreichenden Folgen und Konsequenzen einer Pandemie beleuchtet, die nicht nur auf gesellschaftlicher, sondern auch auf politischer Ebene hochrelevant sind. Speziell vor dem Romanhintergrund eines hygienediktierten Überwachungsstaates sind politische Inhalte gelungen in die Dystopie eingebettet, wodurch sich vielfältige Möglichkeiten ergeben, totalitäre Staatsformen kritisch zu betrachten und zu hinterfragen. Der Roman greift somit zahlreiche für den Unterricht relevante Themengebiete auf, die mit Schüler:innen erörtert und reflektiert werden können. Neben der beschriebenen Pandemie-Situation werden auch die für Dystopien typischen Themenschwerpunkte wie etwa staatliche Überwachung oder die Frage nach Individualität (=Freiheit) vs. Gemeinschaft (=Solidarität), behandelt, was Vergleiche und die Verknüpfung mit anderen, teils auch klassischeren Dystopien wie 1984 ermöglicht.
Auch wenn Tönsing (2021, 162) dem Werk vorwirft, “eine gefährliche Konzeptualisierung der Coronakrise […]“ zu initiieren, besteht genau hierin das Potential, Schüler:innen zu einer reflektierten Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Lebenswelt anzuregen. Speziell durch ihren Realitätsbezug eröffnet die Dystopie somit die Möglichkeit, dass Schüler:innen stärker Reflexionsfähigkeit ausbilden und lernen, wie man die eigene Lebenswelt kritisch und rational hinterfragen respektive betrachten kann. Essenziell erscheint es in diesem Zusammenhang, unterrichtliche Kontexte so einzubetten, dass Realität und Fiktion angemessen in Beziehung zueinander gesetzt werden.
Kritisch anzumerken ist freilich das plötzliche Ende des Textes, das eine genauere Betrachtung der häufig erwähnten „Sicklands“ vermissen lässt. Auf didaktischer Ebene bietet das recht abrupt wirkende Ende jedoch potentielle Anknüpfungspunkte. So besteht die Möglichkeit, dass Schüler:innen im Rahmen handlungs- und produktionsorientierter Verfahren eine individuelle Fortsetzung der Dystopie verfassen oder Zeichnungen der „Sicklands“ anfertigen, um sich mit der Idee eines utopischen Außen auseinanderzusetzen.