Mirjam Mous: Data Leaks. Wer macht die Wahrheit?
Von Adrian Fried, Natali Geinez und Jan Scherer
Vorbemerkung:
„Data Leaks. Wer macht die Wahrheit“ ist der erste Band einer zweiteiligen Reihe. Das Jugendbuch endet mit einem Cliffhanger und weist zahlreiche lose Handlungsfäden auf, die im zweiten Band „Data Leaks. Wer kennt Deine Gedanken“ weitergesponnen werden.
Eine Lektüre des ersten Bandes in schulischen Kontexten kann daher ganz konkret Lust auf neue Leseabenteuer wecken.
Inhalt
Die Geschwister Holden (17) und Prissy (15) leben in der digitalisierten Stadt Paradise, in der weder Kriminalität noch Umweltverschmutzung existiert. Das Geschwisterpaar könnte nicht unterschiedlicher sein. Während sich Prissy in der digitalen Welt verliert und durch die Technologien Camchat sowie das ID-Armband in ihren Tätigkeiten und Gedanken vom System gesteuert wird, rebelliert Holden gegen das System. Wer gegen die Regeln des Systems verstößt, wird als Straftäter im Clifton-Institut untergebracht, in dem der Vater von Prissy und Holden vor Beginn der inszenierten Handlung unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen ist. Dort landet Holden, nachdem er am Happy-Day Feuerwerkskörper zündet. Ab diesem Zeitpunkt wird Prissys Scheinwelt erschüttert. Sie begegnet dem Hacker Mo, welcher ihr die Augen öffnet und einige Trugschlüsse der digitalen Welt aufzeigt. Sie verbünden sich, um einerseits Holden zu befreien und andererseits das System zu stürzen.
Fachwissenschaftliche Überlegungen
Das Werk „Data Leaks – Wer macht die Wahrheit?“ von Mirjam Mous verbindet dystopische Merkmale und Merkmale eines Coming-of-Age Romans miteinander. Innerhalb des dystopischen Settings der dargestellten Außenwelt wird der Entwicklungsprozess der Geschwister Holden und Prissy aufgezeigt. Diese Entwicklung mündet in einer für Coming-of-Age Romanen typischen Rebellion, jedoch nicht gegenüber elterlichen oder schulischen Autoritäten, sondern im Sinne der dystopischen Grundlage gegenüber den Machthabern der vorherrschenden Gesellschaftsordnung.
Es finden sich demnach typische Merkmale eines Coming-of-Age Romans wieder, wobei neben der sich entwickelnden Rebellion Holdens Verhalten hervorsticht, der schon zu Beginn des Romans einen kritischen und rebellischen Charakter aufweist, durch den er sich selbst immer wieder in Schwierigkeiten bringt. Prissy hingegen ist als eine stereotype Figur zu charakterisieren, die die typischen klischeebehafteten Verhaltensmuster einer Jugendlichen aufweist. Dazu zählt das Ich-bezogene, konfliktproduzierende Verhalten gegenüber der Mutter, die es nur gut meint, sowie das gefahrignorierende Schwärmen für einen Jungen, der zu Beginn des Romans klare Grenzen überschreitet. Des Weiteren wird der unkontrollierte Umgang mit Social Media thematisiert und deren Einfluss auf freundschaftliche Beziehungen unter Jugendlichen, die sich in der Scheinwelt des Internets verlieren und der fiktiven Welt mehr Geltung zusprechen als der realen.
Die dystopischen Merkmale sind ebenfalls eindeutig zu erkennen. Die fiktive Welt und deren Gesellschaftsstruktur werden durch die Protagonistinnen unreflektiert vorgestellt. Die Perspektiven der beiden Hauptfiguren alternieren, sodass sich das Werk mosaikhaft aus zwei perspektivisch überlappenden Erzählsträngen ergibt. Die Gesellschaftsstruktur im Werk ist autoritär hierarchisch, jedoch betonend fürsorglich gegenüber den Menschen. Das Essen wird technisch zusammengestellt und die Ordnungshüter sind stets schnell zur Stelle, sofern Verstöße gegen die Ordnung geschehen. Die Leserinnen müssen eine Reflexionsleistung erbringen, indem sie die fiktiven Strukturen mit der realen Welt vergleichen und dadurch einen Verfremdungseffekt erkennen. Dieser tritt ein, wenn die Leserinnen die Darstellung der fiktiven Realität auf die ihnen bekannte Realität übertragen und Unterschiede erkennen. Dass diese meist kritisch zu hinterfragen sind, ergibt sich aus den dystopischen Merkmalen. Dabei können die Leserinnen gleichzeitig ihr eigenes, reflektives Bewusstsein schärfen. Ebenfalls typisch ist, dass der Erkenntnisprozess der Hauptfiguren innerhalb des Romans durch andere Figuren herbeigeführt wird. Die Figuren im Werk leben in einer kontrollierten Welt, in der ihre grundlegenden Bedürfnisse staatlich kontrolliert werden und sie vordergründig zu ihrer Sicherheit überwacht werden.
Prinzipiell ist also festzuhalten, dass das Werk sowohl typische Merkmale eines Adoleszenzromans wie auch eines dystopischen Romans aufweist. Im Vordergrund steht allerdings die jugendliche Entwicklung der beiden Protagonist*innen und deren Umgang in einer sich verändernden Welt – einer Welt, in der ihre vorgegebenen Strukturen zu wanken beginnen und sie lernen müssen, erwachsen zu werden. Der Roman ist daher eher als Adoleszenzroman zu lesen, der ein dystopisches Setting verwendet, um der Erzählstruktur einen Aspekt hinzuzufügen, der Spannung hervorruft, dabei allerdings logisch und zusammenhängend innerhalb der Handlung funktioniert. Das schafft „Data Leaks“ tatsächlich gut, wodurch es sich mit einem klar formulierten und strukturiert verfolgten Unterrichtsziel als Schullektüre durchaus eignet.
Didaktische Überlegungen
Literaturunterricht trägt dazu bei, Schüler*innen literaturspezifisches Wissen zu vermitteln und sie literarisch zu fördern. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der durch diesen Roman stärker gefördert werden kann, ist der der Lesemotivation. Mit stolzen 400 Seiten erscheint der Roman als sehr umfangreich, sodass es nur umso überraschender ist, wie schnell dieser gelesen werden kann.
Hierfür gibt es einige Gründe. Zum einen ist die Geschichte spannend und animiert durch die häufigen „Cliffhanger“ am Ende der Kapitel zum Weiterlesen. Die unterschiedlichen Perspektiven, aus denen der Roman geschrieben ist, tragen dabei dazu bei, die Spannung aufrecht zu erhalten. Zudem werden den Schüler*innen durch die verschiedenen Perspektiven unterschiedliche Herangehensweisen an ein Problem geboten und sie können nicht nur eine, sondern zwei Geschichten miterleben und sich mit den Charakteren identifizieren. Auch die Tatsache, dass der Roman nah an der Lebenswelt der Schüler*innen ist, sollte hierzu beitragen. Die alltäglichen Probleme von Jugendlichen, wie beispielsweise Streit mit den Eltern oder das erste Verliebtsein, werden aufgegriffen und so umgesetzt, dass man sich sogar als erwachsene*r Leser*in in die eigene Vergangenheit zurückversetzt fühlt. Ein besonders wichtiger Aspekt für den Einsatz im Unterricht ist hiermit klar gegeben: Der Spaß am Lesen.
Durch die anfängliche Verortung in einem für jugendliche Leser*innen lebensnahen Setting, das bestimmt ist von Familie, Schule und Peergroup bietet das Jugendbuch hohes Identifikationspotential. Die wechselnde weibliche und männliche Perspektive trägt zur Persönlichkeitsentwicklung der Schüler*innen bei, indem diese lernen, sich in andere hineinzuversetzen. Darüber hinaus bietet der Roman zeitdiagnostisches Potential, besonders auffällig ist hierbei der Umgang mit Natur und Essen sowie die voranschreitende Technologisierung und deren Auswirkungen auf Individuum und Gesellschaft. Dadurch, dass die Charaktere sich aktiv mit dem System auseinandersetzen, was von den Schüler*innen nachvollzogen werden kann, wird politische Bildung ermöglicht. Dabei können insbesondere die Momente der angeblichen Freiheit und der erzwungenen Gleichheit kritisch reflektiert werden, ebenso wie das Moment der Solidarität, das sich in den entstehenden zwischenmenschlichen Beziehungen deutlich erkennen lässt.
Auch kritische Einwände, die gegen den Roman und insbesondere gegen das Verhalten der Protagonistin angebracht werden können, beinhalten didaktische Möglichkeiten. So ist das Handlungselement, dass ein Prissy völlig unbekannter Charakter, der sie zu stalken scheint, plötzlich vertrauenswürdig erscheint, weil er attraktiv ist, nicht nur problematisch, sondern bietet auch das Potential, die Schüler*innen zu sensibilisieren. Der schroffe Umgang Prissys mit der Mutter ist nicht nur unhöflich oder respektlos, sondern kann auch dazu anregen, den Umgang in der eigenen Familie und darüber hinaus zu reflektieren.
Das Buch ist nah an der Lebenswelt der Schüler*innen und bietet vielfältige Möglichkeiten, das kritische Lesen zu fördern. Denn es gibt im Roman immer wieder Stellen, an denen die Charaktere oder Geschehnisse hinterfragt werden können und somit dazu beitragen, Schüler*innen zum Nach- und Weiterdenken zu animieren. Insgesamt bietet der Roman viele spannende Möglichkeiten im Unterricht eingesetzt zu werden