Mehrnousch Zaeri-Esfahani: 33 Bogen und ein Teehaus
Von Elena Sofia Ferdinand und Silvia Singer
Vorbemerkung:
Der Beitrag entstand nach einer Lesung mit Werkstattgespräch an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, bei der die Sozialpädagogin, Autorin und Referentin Mehrnousch Zaeri-Esfahani nicht nur die Studierenden mit ihrer ganz besonderen Art des Storytelling in den Bann gezogen hatte.
Gerade auch für schulische Kontexte kann eine solche Veranstaltung sicher gewinnbringend sein.
Informationen finden Sie hier.
Inhalt
Die Protagonistin und Erzählerin des autobiografischen Romans „33 Bogen und ein Teehaus“ Mehrnousch Zaeri-Esfahani verbringt die ersten Jahre ihrer Kindheit in Isfahan im Iran. Doch als die islamische Revolution das Land verändert und der Führer Ayatollah Chomeini an die Macht kommt, kommt es schließlich zum Krieg. Unzählige Verbote werden verhängt, den Menschen wird jede Freude genommen. Kinder werden manipuliert, ausgehorcht und letztendlich als Kindersoldaten in den Krieg geschickt. Der Familie Zaeri-Esfahani bleibt keine andere Wahl: Sie müssen aus ihrem geliebten Heimatland fliehen. 14 Monate ohne Heimat folgen. Über die Türkei und Ostberlin gelangt die sechsköpfige Familie schließlich nach Westberlin, wo ihre Reise durch verschiedene Flüchtlingsheime und Bundesländer beginnt. Dort werden sie mit anderen Problemen und Schwierigkeiten wie Sprachschwierigkeiten, Ausgrenzung durch Hass, Rassismus und Mobbing, konfrontiert. Doch Mehrnousch gibt nicht auf und sie und ihre Eltern sowie Geschwister bauen sich in Heidelberg ein neues Leben in Frieden auf.
Fachwissenschaftliche Überlegungen
Die Autobiografie „33 Bogen und ein Teehaus“ beginnt im Iran der 70er Jahre und der Schilderung der Kultur-Revolution, die zur Diktatur führt, ohne dass die Bevölkerung dies erwartet hätte. Anfangs herrscht eine mitreißende Begeisterung für den neuen Führer. Auch Mehrnousch liebt ihn und die von ihm verheißene ‚verrückte‘ Revolution. Dies ändert sich jedoch nach dem Putsch gegen den Schah und der Machtübernahme durch Chomeini. Die Lektüre gibt einen historischen Einblick in die politischen Umstände im Iran und sensibilisiert für die Fragilität politischer Systeme.
Das Werk enthält damit eine Vielzahl politischer Themen: Missachtung von Menschenrechten, Unterdrückung der Bevölkerung sowie Abschottung zum Westen durch den neuen Führer Ayatollah Chomeini sind für die Erzählerin Mehrnousch und den Rest der Bevölkerung Alltag geworden. Sie müssen sich an unzählige Verbote halten, sodass jeglicher Spaß im Leben versiegt.
Verliebt sein war ebenfalls verboten. (S.40)
Furcht und Schrecken sind ein ständiges Begleitgefühl. Gerade Kinder sind in diesem Land gefährdet; sie werden instrumentalisiert, um ihre Eltern auszuhorchen. Darüber hinaus werden sie zu Soldaten sozialisiert. Der Krieg wird verharmlost mit dem Ziel, Euphorie bei den Jungen zu wecken, damit auch sie in den Krieg ziehen wollen. Dort werden sie zur Mienenbeseitigung eingesetzt und kehren selten zu ihren Familien zurück.
Sie fragten uns sogar über unsere eigenen Eltern und Verwandten aus. Und wir mussten lügen. Bald log ich sehr oft und sehr gut. Denn unsere Eltern, Tanten, Onkel, Großeltern und Geschwister, eigentlich fast alle, taten tagtäglich viele verbotene Dinge, da alles verboten war. (S.41)
Mehrnousch hat eine kleine Schwester und zwei größere Brüder. Mit 15 Jahren müssen Jungen im Iran in den Krieg. Als ihr ältester Bruder diesem Alter immer näherkommt und sich die Umstände im Land weiter verschlechtern, bleibt der Familie Zaeri-Esfahani – trotz ihrer finanziellen sowie sozial guten Stellung – als einziger Ausweg die Flucht, um ein Leben in Frieden und Freiheit leben zu können. Damit wird die Thematisierung von Heimat sowie Heimatlosigkeit zum immanenten Bestandteil des Werks. Dabei lässt die Autorin den Leser oder die Leserin authentisch daran teilhaben, wie ihre politisch motivierte Flucht vonstattenging. Dies zeigt den Lesenden eindrucksvoll, dass es erforderlich sein kann, den eigenen Wohlstand für ein Leben in Freiheit und Frieden aufzugeben. Dabei werden Themen wie Freiheit, Zusammenhalt und Neuankunft ins Zentrum gerückt, was eine philosophische Ausrichtung der Textbegegnung im schulischen Kontext ermöglicht.
Die Autorin Mehrnousch verarbeitet ihre Gefühle, Erfahrungen und Gedanken in autobiografischer Form, was bei den LeserInnen eine intensive Rezeptionshaltung hervorrufen kann. Die Fähigkeit der Perspektivübernahme wird so gefördert. Mitgefühl und Empathie können beim Lesen aufkommen, dies wird durch die authentische Erzählweise der Autorin unterstützt. Das Werk ist zudem durch einen besonderen, poetischen Schreibstil gekennzeichnet. Jedes Kapitel fängt mit der Beschreibung und Personifizierung des Flusses an, der durch den Handlungsort fließt. Die eindrucksvolle Atmosphäre, die die Autorin durch die lebhafte und gleichermaßen poetisch-metaphorische Erzählung ihrer Kindheit schafft, ermöglicht es den Lesenden, sich den Stationen ihrer Reise nach Deutschland hinzugeben. Das folgende Zitat untermauert diese Wirkung:
Die Havel ist ein hübsches Flüsschen, das sich wie eine Kette mit großen Perlen rund um das Havelland legt. Die Perlen werden von den vielen kleinen Seen gebildet, die sich an die Havel reihen. Die Havel entspringt in Ostdeutschland, der damaligen DDR. So könnte man auch sagen, dass es vielleicht die Havel war, die meine Familie und mich still und unmerklich auf unserem Weg von Ost nach West begleitet und beschützt hat. (S.87)
Mehrnousch beschreibt ihre Gefühle und Gedanken aus der Perspektive des Kindes, das sie früher einmal war und dennoch klingt ein sehr weiser Erzählton nach. Ein Beispiel für die kindliche Erzählperspektive und den dennoch sehr poetischen und gefühlvollen Schreibstil bietet folgendes Zitat:
Aber ich wollte den Mond nicht sehen. Nie mehr. Es war seine Schuld, dass ich kein Zuhause mehr hatte. (S.83)
Didaktische Überlegungen
Die Protagonistin des Werkes ist zu Beginn des Romans im Iran erst fünf Jahre alt. Im Alter von elf Jahren flieht sie mit ihrer Familie. Am Ende der Flucht, in Heidelberg, ist das Mädchen dreizehn Jahre alt. Somit befindet sie sich in einem ähnlichen Alter wie die SchülerInnen, was die Identifikation mit ihrer Person erleichtert. Darüber hinaus wird die emotionale Beteiligung der Lesenden gefördert, indem die Autorin eindrücklich die Erinnerungen aus ihrer Kindheit Revue passieren lässt. Besonders hervorzuheben sind dabei die Erlebnisse aus Mehrnouschs Schulzeit in Heidelberg, die die SchülerInnen zur Perspektivübernahme einladen.
Das Werk behandelt sehr schwerwiegende und ernste Themen. Die authentisch beschriebenen Emotionen sowie traumatischen Erfahrungen der Familie, erzählt aus der Perspektive des Kindes, gehen dem Leser sehr nahe. Zugleich wird jedoch die Schwere des Erzählten durch die Schilderung kindlicher Gedankengänge abgemildert, was die Lektüre erleichtert:
Die Erwachsenen sprachen von „Gehirnwäsche“. Ich stellte mir die schlimmsten Dinge darunter vor. Es war mir ein Rätsel, warum die Jungs sich freiwillig das Gehirn waschen ließen. Ich dachte, das müsste doch wehtun. (S. 52)
Die Autobiografie eignet sich damit gut, um Flucht und Fluchterfahrungen zu thematisieren. Die Ereignisse in Deutschland, vor allem die in der Heidelberger Schule, bieten den SchülerInnen Potenzial, die Perspektive eines Flüchtlingskindes nachzuvollziehen. Gleichsam kann durch die Auseinandersetzung mit dem Text für einen achtsamen Umgang mit MitschülerInnen mit Fluchterfahrungen sensibilisiert werden. Reale Erlebnisse und die historisch detailgetreue Darstellung führen dazu, dass man ein realistisches Bild der vollzogenen Flucht erhält.
Empfehlenswert ist das Buch für den Einsatz in der Unterstufe bis in die Sekundarstufe I. Im Deutschunterricht kann dabei eine sukzessive Heranführung an rhetorische Stilmittel erfolgen, da sich die Autorin vielfältiger rhetorischer Mittel bedient. Ebenso erhalten die SchülerInnen kindgerechte Zugänge zu literarischen Narrationen und können weitere literarische Erfahrungen im Umgang mit poetischer Sprache gewinnen. Hier ein Beispiel für die poetische Sprache des Werks, die den LeserInnen zu intensiver Vorstellungsbildung einlädt:
Unser Hochhaus erhob sich ganz allein aus einem Wolkenmeer. Der Nebel war so tief gesunken, dass unser Stockwerk und unsere Fenster darüberlagen. Das warme orangefarbene Licht der Straßenlaternen beleuchtete den Nebel von unten. Unser Hochhaus war ein riesiger einsamer Turm, der hoch oben aus den Wolken ragte. Wie ein Turm der Riesen. […] Es war, als ob ich fliegen würde. Als ob ich eine geflügelte Traumprinzessin in einem Turm wäre. (S. 76)
So kann auch – in Vorbereitung auf den Unterricht in der Sekundarstufe II – mit dem Werk eine Sprachanalyse initiiert werden.
„33 Bogen und ein Teehaus“ kann nicht nur im Deutschunterricht gelesen werden. Aufgrund der historischen, sozialen sowie geografischen Bezüge lassen sich fächerübergreifende Unterrichtsreihen konzipieren: Denkbar sind Kooperationen mit den Fächern Philosophie / Ethik, Sozial- und Erdkunde sowie Geschichte.