Debbie Tung: Quiet Girl. Geschichten einer Introvertierten
Von Theresa Johanna Heger
Inhalt
Debbie studiert, lernt Jason kennen und sie heiraten. Sie schreibt ihre Dissertation, steigt in das Berufsleben ein und arbeitet in einem Großraumbüro. Seit sie klein ist, vermutet sie jedoch, dass mit ihr irgendetwas nicht stimmt.
Während Jason extrovertiert und gern unter Menschen ist, bleibt Debbie viel lieber allein zu Hause im Bett, trinkt Tee und liest ein Buch. Auf ihrer eigenen Hochzeit versteckt sie sich, weil sie nicht im Mittelpunkt stehen will. Eigentlich freut sie sich über die Jobzusage, aber andererseits hat sie Angst vor allen sozialen Interaktionen, die mit der Arbeit verbunden sind.
Debbie sucht hinter allem einen tieferen Sinn, hinterfragt Vieles und ist unzufrieden mit sich, bis sie einen Persönlichkeitstest macht. Das Ergebnis: Sie ist ein INFJ-Persönlichkeitstyp, was sehr selten ist. Sie recherchiert darüber, versteht, warum sie so ist wie sie ist, und beschließt, sich nicht mehr zu verstellen. Schließlich kündigt sie und macht sich selbstständig. Für Debbie ist es befreiend, zu erkennen, wer sie ist, und sich selbst zu lieben und zu akzeptieren.
Typenlehre:
Die Ursprünge der Typenlehre reichen bis in die Antike; die Einteilung in 16 Persönlichkeitstypen, auf die im Comic rekurriert wird, geht auf den Psychologen C.G. Jung zurück.
INFJ-Typ (auch Advokat-Typ genannt):
Menschen mit diesem Persönlichkeitstyp sind sowohl idealistisch und ethisch als auch entschlossen und zielstrebig. Zudem sind sie kreativ und phantasievoll. Sie äußern sich rücksichtsvoll und bedächtig, treten aber beharrlich für ihre Ansichten ein, wobei sie ihren Eifer nicht zu ihren eigenen Gunsten einsetzen, sondern um anderen zu helfen. Sie sind einerseits recht soziale Persönlichkeiten, die ein Talent für emotionale und feinfühlige Kommunikation haben, aber andererseits benötigen sie auch Zeit für sich selbst, um die sozialen Batterien wieder aufzuladen. Weniger als ein Prozent der Bevölkerung kann diesem Typen zugeordnet werden.
(Vgl.: https://www.16personalities.com/de/infj-personlichkeit, zuletzt: 08.07.2022)
Fachwissenschaftliche Überlegungen
Die Welt ist heutzutage laut und gesellig, aber was ist, wenn ich das nicht bin? Ist es das Richtige, mich anzupassen, auch wenn ich mich damit nicht gut fühle? „Quiet Girl“ von Debbie Tung zeigt auf eindrückliche Weise, wie herausfordernd das Leben in Gesellschaft für Introvertierte sein kann, gerade, wenn man versucht, sich anzupassen.
Oberflächlich betrachtet läuft es in Debbies Leben doch genauso wie man sich das wünschen könnte: Erfolgreiches Studium, Hochzeit mit dem Partner, den sie liebt, guter Job. Aber Debbie fühlt sich trotzdem innerlich leer.
Sie weiß genau, was sie mag und was nicht, tut aber Dinge, die sie nicht leiden kann, weil das nun mal erwartet wird, und ärgert sich über ihre Charaktereigenschaften, weil diese nicht in die soziale Norm zu passen scheinen. Sie denkt, es sei einfacher sich anzupassen, weil sie dann die Einzige ist, die leidet, und sie anderenfalls andere enttäuschen würde. Als sie sich jedoch eingehender mit ihrer Persönlichkeit auseinandersetzt, merkt sie, dass sie alles, was sie ist und was sie erreicht hat, eben gerade ihrem besonderen Wesen zu verdanken hat und, dass es daher nicht gut ist, sich zu verstellen. Ihr Fazit:
Normal sein – Ein Ratgeber für Introvertierte. Stufe eins. Lass es sein. Du bist perfekt, wie du bist. (S. 160)
Ihre besondere Eindrücklichkeit gewinnt die Geschichte vor allem durch die Darstellungsform der Graphic Novel.
„Graphic Novels entstehen oftmals in dem Bewusstsein, dass es ein politisches Interesse an der Vermittlung der eigenen Subjektivität gibt und dass Identität in diesem Zusammenhang von grundlegender Bedeutung ist.“
(Eder, Barbara: Graphic Novels. In: Abel, Julia/Christian Klein (Hg.): Comics und Graphic Novels. Eine Einführung. Stuttgart 2016, S. 158)
Durch die multimodalen, anschaulich dargestellten Einzelsituationen des alltäglichen Lebens und die Perspektive sowohl auf die „Ich“-Erzählerin als auch in ihre Gefühls- und Gedankenwelt hinein, fällt es leicht, sich in die Protagonistin hineinzuversetzen und ihre Sichtweise nachzuvollziehen – oft geschieht dies auf humoristische Weise, wie folgendes Beispiel zeigt.
Stimmungsumschwung nach Jobzusage (S. 93-95)
Auf drei Buchseiten wird die Reaktion von Debbie auf ihre Jobzusage dargestellt (S. 93-95), wobei hierfür unterschiedlich große Panels verwendet werden. Das erste und das letzte Panel umfassen jeweils eine ganze Buchseite. Auf der Seite dazwischen sind vier gleich große und gleichmäßig angeordnete Panels dargestellt, wobei hier jeweils lediglich Debbie ohne jegliche Requisite gezeigt wird. Der Hintergrund ist dabei schlicht in Weiß gehalten, wodurch der Fokus ausschließlich auf Debbie und ihrer Reaktion liegt. Die Darstellungen hier, sowie im ganzen Buch, sind in Grautönen, sowie Schwarz und Weiß gehalten. Dies könnte unterstützend ausdrücken, dass Debbie das Bunte, Grelle, im übertragenen Sinne Laute, Auffällige und Aufgeregte eben nicht mag, sondern eher das Schlichte und Ruhige.
Auf dem ersten, ganzseitigen Panel drückt Debbie auf ihrem Bett liegend mit „Puh“ ihre Erleichterung über die Jobzusage aus, die für sie selbst nicht selbstverständlich erscheint. Zuvor hatte sie gedacht, sie habe das Bewerbungsgespräch „in den Sand gesetzt“ und bezeichnete sich selbst als Loser (S. 92). In den nachfolgenden Panels wird durch Mimik und Gestik, als auch durch die Sprechblasen, die gedankliche Entwicklung der Reaktion Debbies deutlich: Zunächst freut sie sich kichernd („Hihi. Schau mich an. Erwachsen.“) darüber, durch den Einstieg in das Berufsleben erwachsen zu sein, anschließend schaut sie entgeistert und schließlich hält sie verzweifelt die Hände vor das Gesicht.
Im Hinblick auf die Angabe der Zeit zeigt sich hier eine weitere Besonderheit der multimodalen Darstellung. Größere Panels können zu einer Entschleunigung des Lesetempos führen, da man hier bei der Betrachtung länger verweilt, kleinere Bilder hingegen können eine Beschleunigung zur Folge haben, so wie es in der Szene (auf S. 94) durch die unmittelbare Abfolge der kleinen Panels der Fall ist. Betrachtet man die Panels in der Gesamtheit jedoch genauer, so kann man eine deutliche Zeitraffung erkennen: Im ersten Panel ist es hinter dem Schlafzimmerfenster hell, im letzten Panel hingegen dunkel und Debbie liest im Schein einer Lampe, wodurch deutlich wird, dass einige Zeit vergangen sein muss. Die gesamte Geschichte kann also nur der erfassen, der alle Elemente der Seite wahrnimmt und in Beziehung setzt.
Die Konsequenz, die Debbie schließlich zieht und somit das letzte Panel, kann auf zwei Ebenen gedeutet werden: Auf einer manifesten Ebene wird hier Debbies literarische Realität abgebildet und sie baut sich aus Stühlen und ihrer Decke unmittelbar nach der Jobzusage eine Höhle, umgibt sich mit Büchern und Tee und verkriecht sich in dem, was ihr wichtig ist. Auf einer symbolischen Ebene steht das Panel stellvertretend für ihren Rückzug vom Erwachsensein ins Kindliche und Behütete, steht für die Angst vor den Herausforderungen, die sie erwarten würden, und somit für einen Einblick in ihre Gefühlswelt.
Betrachtet man das ganze Werk, so inszeniert „Quiet Girl“ die Frage danach, ob es nicht auch ein Aspekt der grundrechtlichen Freiheit ist, in einer lauten und auffälligen „No Limit“-Gesellschaft, in der nahezu alles erlaubt zu sein scheint, gerade als junger Mensch gegen den Strom schwimmen und leise und unauffällig sein zu dürfen. Gehört es zur Freiheit, sich zurückziehen zu dürfen, wenn man sich danach fühlt und deswegen nicht gleich als uncool oder langweilig zu gelten, nur weil man nicht allen Interaktionen, ob über soziale Netzwerke oder in physischer Präsenz, beiwohnt?
Außerdem sensibilisiert die Graphic Novel dazu, jeden Menschen als unterschiedliche Persönlichkeit zu betrachten, denn allen Menschen ist gleich, dass sie die Welt unterschiedlich wahrnehmen und verschieden auf Situationen reagieren. Darüber hinaus führt die Heterogenität der Menschen dazu, dass sich ungleiche Charaktere gut ergänzen können, so wie es bei der introvertierten Debbie und dem extrovertierten Jason der Fall ist.
Didaktische Überlegungen
Es liegt nahe, dass die Behandlung einer Graphic Novel im Unterricht die Lesemotivation der SchülerInnen steigert. Die multimodale Darstellung kann aber darüber hinaus unterstützend dafür sorgen, dass eine umfassendere Perspektivübernahme erfolgen kann und die dargestellten Situationen auch für extrovertierte SchülerInnen zugänglicher und nachvollziehbarer sind. Welche Mittel werden in dem Werk konkret eingesetzt, um die Handlung und Debbies Innenleben begreiflicher zu gestalten? Diese Frage sollte mit den SchülerInnen erarbeitet werden. Beispielhaft könnten hier die Gegenüberstellungen thematisiert werden, die oft im Buch zu finden sind, wie auf S. 135, wo Debbie vergleicht, wie es für sie ist, entweder über ihre Gefühle zu schreiben oder darüber zu sprechen.
Das Buch lädt dazu ein, in sich selbst hineinzuhören und die eigenen Interessen, aber auch Abneigungen zu reflektieren, denn Selbsterkenntnis ist ein erster Schritt zur Selbstakzeptanz. Und nach Debbie ist es so, dass zu „akzeptieren, wer man ist und wer man nun mal nicht ist, (…) das Leben wirklich verändern und sehr befreien“ kann (S. 171).
Hierbei kann im Unterricht zunächst thematisiert werden, was es für Debbie als Introvertierte bedeutet, aus ihrer Wohlfühlzone herauszukommen, welche Konsequenzen für sie damit verbunden sind, wie sie damit verbundene alltägliche Situationen wahrnimmt und damit umgeht. Was ist das Besondere an Debbie und woran kann man dies inhaltlich festmachen? Die SchülerInnen können daraufhin ihre eigene Wahrnehmung auf ausgewählte im Buch dargestellte alltägliche Situationen reflektieren, wobei dies durchaus sehr individuell sein kann. Inwiefern finden sie sich hierbei selbst in Debbie wieder oder nicht?
Was bedeutet es für die SchülerInnen selbst aus ihrer Wohlfühlzone zu kommen und welche Vor- und Nachteile kann dies haben? Da es sich hierbei um sehr persönliche Fragen handelt, scheint es wichtig, sensibel mit der Thematik umzugehen und einen Raum zu schaffen, in welchem die Konfrontation mit dem eigenen Ich möglich ist. So bietet es sich ggf. an, dass entsprechende Aufgaben lediglich als Anregung zur persönlichen Reflexion gestellt werden, bzw. für den Austausch mit einer Vertrauensperson (wie beispielsweise dem besten Freund/der besten Freundin), ohne dabei im Plenum (explizit) darauf einzugehen. Der individuellen Selbstreflexion schließt sich die Frage an, welche Anforderungen die Gesellschaft an den Einzelnen stellt die eigene Wohlfühlzone zu verlassen, aber auch welche moralischen und gesetzlichen Einschränkungen es gibt, die das Handeln des Einzelnen notwendigerweise beschränken. Diese Frage kann wiederum gut im Plenum diskutiert werden.
Eine große Leidenschaft von Debbie sind Bücher, was häufig in der Graphic Novel thematisiert wird (beispielsweise S. 108/109). Mit den SchülerInnen kann man daran anknüpfen und besprechen, welches Potenzial Bücher (im Vergleich zu anderen Medien) für Debbie und auch im Allgemeinen haben. In diesem Rahmen kann auch näher auf das Genre Graphic Novel im Vergleich zu textbasierterer Literatur eingegangen werden. Anhand von „Quiet Girl“ können die spezifischen Erzähl- und Darstellungsformen des Genres exemplarisch besprochen und die Möglichkeiten der Begleit- und Anschlusskommunikation ausgeschöpft werden.