Lea-Lina Oppermann: Fürchtet uns, wir sind die Zukunft
Von Bettina Wild
Vorbemerkung
Es bestimmt das Cover und ist zudem ein wichtiges Element der story: das „Z“. Der Buchstabe „Z“ ist durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine in Verruf geraten. Zuvor war der Buchstabe allerdings positiv konnotiert, als Signatur von Zorro war er verbunden mit dem Freiheitskampf gegen Fremdherrschaft und soziale Ungleichheit. Einzig dieses „Z“ wird im Roman angespielt. Dennoch wirft die neue negative Besetzung des Buchstabens als ein Symbol für Gewalt und Krieg eine Frage auf, an die zum Datum des Erscheinens noch niemand denken konnte: Sollen wir uns durch einen wild gewordenen Aggressor unserer tradierten kulturellen imagines berauben lassen – dürfen wir das „Z“ also nicht mehr als Symbol nutzen – oder gilt es vielmehr unsere freiheitliche Konnotation gegen die Botschaft des Schreckens zu setzen? „Z“ wie „Zukunft“, im Sinne des Kampfes für eine gerechte Welt.
Inhalt
Für den achtzehnjährigen Ich-Erzähler Theodor Sandmann beginnt das Musik-Studium an der Akademie. Doch stellt sich schnell heraus, dass das Klavierspiel nur ein Element seines neuen Lebens ist. Denn durch die faszinierende Schauspiel-Studentin „Aida“ bekommt er Kontakt zur geheimen Protestgruppe „ZUKUNFT“. Plötzlich geht es neben der Musik auch um die Frage, wie jeder / jede Einzelne die Welt verändern kann.
Playlist ausgewählter
im Roman erwähnter Musik
Matthias Claudius: „Der Mond ist aufgegangen“
„Der Mond ist aufgegangen“, gesungen von Hannes Wader
„Der Mond ist aufgegangen“, gesungen von Herbert Grönemeyer
„Der Mond ist aufgegangen“, gesungen von Joan Baez
Ludwig van Beethoven: „Mondscheinsonate“
Claude Debussy: „Rêverie”
Claude Depussy: „Arabesque No.1 and No.2“
Guiseppe Verdi: „Aida“, Arie des Ramades
Guiseppe Verdis „Aida“ zusammengefasst von „Opern kurz und bündig“
Otis Redding: „Respect“
Sam Cook: „A Change Is Gonna Come“
Nina Simone: „Ain’t Got No / I Got Life“
Fachwissenschaftliche Überlegungen
„Wir sind die Zukunft“, der zweite Roman der jungen Autorin Lea-Lina Oppermann, kann auf einer Ebene als klassischer Adoleszenzroman gelesen werden, weist er doch typische Themen wie physische und psychische Abnabelung vom Elternhaus, (erste) sexuelle Erfahrungen, Auseinandersetzung mit Tod und Vergänglichkeit, Austesten von Grenzen sowie Ich-Suche auf; auffällig und besonders ist dabei freilich die Parallelisierung der sexuellen Initiation Theos mit seiner politischen Erweckung.
Als individuelle Figur ist Theo also ein legitimer Erbe Holden Caulfields, auch wenn es am Ende scheint, dass sich Theo trotz aller Widerstände und emotionaler Rückschläge nicht wie Holden in die Melancholie oder die Despression flüchtet, sondern bereit ist den Kampf aufzunehmen. Zugleich schafft es Oppermann, in der Figur Theo das Lebensgefühl heutiger Heranwachsender aufzufangen, das geprägt ist von der Zerrissenheit zwischen jugendlicher Aufbruchsstimmung und Lebenslust auf der einen und dem Bewusstsein, Teil der Vernichtung des Lebensraums für Mensch, Flora und Fauna zu sein, auf der anderen Seite:
Niemand wartet auf uns. Das begreife ich ganz plötzlich, während ich so über das Gras und die Kieselsteine laufe. Niemand wartet da draußen auf uns. Im Gegenteil, die ganze Erdkugel ächzt und bebt unter unserer Anwesenheit. Es wäre besser für die Kugel, wenn wir nicht da wären […].
Und trotzdem sind wir da.
Ja, da stehen wir auf dieser Anhöhe […] lauschen in den Lichterkessel, der nicht unser Zuhause ist, und starren in den Sternenhimmel, den wir nicht verstehen. Und es ist schön, so wunderbar, dass wir da sind. Dass WIR am LEBEN sind. (S. 121)
Damit gewinnt der Roman auf einer weiteren Ebene die Qualität einer gelungenen Darstellung der Politisierung der gegenwärtigen jungen Generation; dabei werden auch die drängenden Probleme der Zeit verhandelt, freilich präsentiert im Spiegel des Denkens eines Achtzehnjährigen, der sich dieser Probleme erst bewusst zu werden scheint. Durch diese direkte Teilhabe an den Gedanken Theos, die nicht immer, aber mit zunehmender Intensität, um politische Themen kreisen, entsteht eine eher willkürliche und unsystematische Präsentation politischer Inhalte. Dies kann klar als Stärke des Romans gewertet werden, da durch den Nachvollzug jugendlichen Denkens ein hohes Maß an Authentizität erreicht wird, wodurch wiederum eine (explizite) Lenkung der Leserschaft vermieden wird.
Eine erzählerische Bündelung des Politischen findet sich in der Darstellung der Protestgruppe „ZUKUNFT“ oder „Wir sind die Zukunft“ um die Schauspielschülerin „Aida“ und insbesondere in den drei Reden „Aidas“ (S. 114-116, S.179-181, S. 201-203), die Theodor zum politisch denkenden (und handelnden) Subjekt ‚erziehen‘. Dabei ist auffällig, dass „Aida“ Missstände benennt und zum Protest aufruft, dabei aber – abgesehen von direkten Angriffen auf die fiktive Musikakademie und ihren Direktor – eher vage bleibt und ihre Reden stark philosophisch geprägt sind. Diese (scheinbare) Unbestimmtheit prägt immer wieder die gesamte Darstellung; freilich lässt sich bspw. die leitmotivische Erwähnung des schier unerträglich heißen Sommers unschwer als Anspielung auf den Klimawandel verstehen (und darüber hinaus als Verweis auf Uwe Timms Roman über die 68er Bewegung) und die Nennung der teuren Statussymbole des Direktors als Anspielungen auf soziale Ungleichheit
Das kann doch nicht sein, das kann doch nicht angehen, wir können doch nicht … Wir können doch nicht EINFACH VERSCHWINDEN! So will ich meinen Auftritt auf der Erde nicht. Ich will nicht stumpfsinnig abwarten. Ich will, dass wir verdammt noch mal darum kämpfen, das zu erhalten, was uns als Menschen ausmacht.
[…]
Und dann müssen wir uns fragen, wie wir das hinbekommen. Das ist alles. Fragen, immer wieder Fragen: Wie? Wie schaffen wir das?
Das wird ausreichen. Antworten werden kommen. Wir sind doch alle so klug, so gebildet, wir haben Zugang zur größten Datenbank der Menschheitsgeschichte, wir können es schaffen!
Wenn wir wirklich danach suchen.
Wenn wir wirklich fragen. (S. 180-181)
Die Verweigerung, Antworten zu geben, und die Aufforderung, selbst danach zu suchen, ist eine weitere große Stärke des Romans. Damit hat der Jugendroman eine klare Botschaft an die (jugendliche) Leserschaft – „Engagiert Euch!“ – ohne dabei eine explizite politische Positionierung vorzunehmen, vielmehr werden Fragen aufgeworfen, auch die Frage, wann und wie Protest sinnvoll ist – und wann er nur künstlerische und/oder narzisstische Inszenierung ist.
Auf einer dritten Ebenen schließlich handelt es sich um einen Jugendroman mit vielschichtigen intertextuellen Bezügen, mit denen die Themen des Aufbruchs und der Erneuerung eine weitere (literarische) Qualität gewinnen. Dies beginnt bei der Namensgebung, ist doch der Name Theo Sandmann eine klare Replik auf E(rnst) T(HEODOR) A(madeus) Hoffmann, dessen Erzählung „Der Sandmann“ nicht zuletzt auch in schulischen Kontexten zu seinen bekanntesten Werken zählt. Die Figur Theo spiegelt damit eine literaturgeschichtliche Einschätzung, die E.T.A. Hoffmann als denjenigen ‚Romantiker‘ sehen, der in seinen Märchen die Grenzen romantischer Weltvorstellungen inszeniert und damit pointiert formuliert zum realistischen Skeptiker unter romantischen Träumern wird. Die durch die Namensänderung zu „Neo“, durch die Theo seine politische Erweckung und seinen Protest ausdrückt, entstehende Reminiszenz auf „Matrix“ dürfe der jugendlichen Leserschaft schneller auffallen. Weiter wohnt „Aida“ in der Hölderlin-Straße. Womit auf zwei bedeutende deutsche Schriftsteller respektive Dichter angespielt wird, deren Schaffen weit über die eigene Epoche herausreicht und die in gewisser Weise singulär und ‚revolutionär‘ sind für ihre Zeit. Es bleibt freilich nicht bei diesen literarischen Anspielungen auf die Epoche der Romantik, spielt doch das Mond-Motiv eine zentrale Rolle. Mit dem Abendlied „Der Mond ist aufgegangen“ und Beethovens „Mondscheinsonate“, die im Jugendroman immer wieder eine zentrale Rolle spielen, ist die Rolle von Musik als übergeordneter Metapher angesprochen. Ähnlich wie Hoffmann und Hölderin in der Literatur gilt auch der im Roman leitmotivisch erwähnte Claude Depussy in der Musik als ein Komponist, der neue Wege ging, über seine Zeit hinauswies und dessen Bedeutung für die Musikgeschichte erst spät anerkannt wurde. Hier ist die Assoziation zur politischen Veränderung noch vage, deutlicher wird sie bei den erwähnten Soul-, bzw. Jazz- und Blues-Sänger_innen und Ikonen des amerikanischen Civil Right‘s Movements Otis Redding („Respect“), Sam Cook („A Change Is Gonna Come“) oder Nina Simone („Ain’t Got No / I Got Life“). Textimmanent ist die Parallelisierung von musikalischer (und poetischer) Komposition mit politischem Protest in dem „kleinen gelben Büchlein mit der roter Schrift ‚Songwriting für Neugierige’“, das Theo in der Bibliothek findet, abgebildet, trägt die Unterweisung doch den Untertitel „Finde deine Stimme!“
Didaktische Überlegungen
Der Protagonist Theodor Sandmann ist mit 18 Jahren älter als die durchschnittliche Leserschaft – durch das Setting Akademie, das einem Schul-Setting vergleichbar ist und durch die Darstellung des Protagonisten als Spätentwickler ergeben sich dennoch gute Potentiale zur Identifizierung auch jüngerer Leser.
Dabei erscheint der Jugendroman als didaktischer Glücksfall: Er ist in einer eingänglichen und doch poetischen Sprache geschrieben. Er präsentiert einen sympathischen Helden, den man gernhaben, von dem man sich aber auch distanzieren kann. Er bietet eine anregende, lebensnahe Geschichte mit überraschenden Wendungen, die sowohl komische wie traurige Momente enthält. Er arbeitet mit vielerlei Symbolik. Er ist bestimmt von intertextuellen Bezügen, die von Anspielungen auf Klassiker der Literatur- und Musikgeschichte bis hin zu Zitaten aktueller Popkultur reichen. Er hat eine klare politische Botschaft, die sich auch in der Widmung „Für alle, die ihre Stimme erheben“ spiegelt. Er verweigert dabei eine explizite eigene politische Positionierung, vielmehr ruft er seine Leserschaft dazu auf, selbst die Gesellschaft und ihre politischen Strukturen zu hinterfragen und eigene Antworten zu entwickeln. Dabei können sowohl die Reden „Aidas“ als auch die von der Gruppe formulierten (und an die Wände der Akademie gesprühten) Fragen eine gute Grundlage bieten für Gespräche mit der Klasse, die sich sowohl innerliterarisch um die Frage drehen können, wofür die fiktive Gruppe „ZUKUNFT“ eigentlich steht und was ihre Ziele sind, wie auch um außerliterarische Fragen rund um das künftige Zusammenleben der Menschen.
Auf der figuralen Ebene bietet insbesondere die schillernde Figur der „Aida“ viel Potential. Sie ist die Anführerin der geheimen Protestgruppe und es sind ihre Reden, die Theo und den jugendlichen Leser zum politischen Denken anregen. In der Gewinnung von Mitstreitern setzt sie auf sachliche Argumente sowie spektakuläre Aktionen – und auf ganz persönliche emotionale Beteiligung, indem sie ihren eigenen Kampf für eine bessere und gerechtere Zukunft individuell mit ihrer Krebserkrankung und ihrem nahen Tod bergründet. Freilich wird im Laufe des Romans aufgedeckt, dass ihre Krankheit nicht mehr ist als eine bewegende Legende. Dies und auch ihre Beziehung zu Theo, den sie ganz bewusst ‚in sich verliebt macht‘, ist Teil ihrer ganz persönlichen Inszenierung.
Ausgehend von der Auseinandersetzung mit der Figur „Aida“ und ihrer Motivik kann darüber reflektiert werden, wie viel Inszenierung politischer Protest braucht, wie viel Orientierung an Persönlichkeiten sinnvoll und vielleicht gar notwendig ist und schließlich wann diese Orientierung an Individuen zum (gefährlichen) Personenkult wird.
Die intertextuellen Bezüge – und die damit verbundene Parallelisierung von Revolution in Kunst und Musik mit politischem Protest – liefern Anknüpfungspunkte für Rechercheaufgaben mit anschließender Reflexion. Erscheint die Erarbeitung und Reflexion der Parallelen des Schaffens von E.T.A. Hoffmann, (Friedrich Hölderlin) und Claude Depussy als künstlerische Erneuerer zu politischer und gesellschaftlicher Reform noch sehr elaboriert und nur mit interessierten Schüler_innen (und mit entsprechender Anleitung und Unterstützung) möglich, so kann anhand der erwähnten Singersongwriter gut gemeinsam erarbeitet werden, welche reale Macht Kunst, Literatur und Musik bei Prozessen gesellschaftlicher Veränderung haben. Dabei sind sowohl fächerübergreifende Projekte mit dem Fach Musik denkbar, sowie auch mit den Fächern Englisch und Geschichte, indem die Songtexte (im Original) gelesen und interpretiert und in ihren historischen Kontext gestellt werden.