Kirsten Boie: Thabo – Detektiv und Gentleman – Der Nashornfall
Von Carlen Bach und Freya März
Inhalt
Im ersten Band der dreibändigen Kinderbuchreihe Thabo. Detektiv und Gentleman von Kirsten Boie wollen Thabo, sein Freund Sifiso und seine Freundin Emma den schrecklichen Kriminalfall, der sich in Lion Park zugetragen hat, noch vor der Polizei lösen. Während einer Safari für Tourist*innen wird ein totes Nashorn mit abgetrenntem Horn gefunden. Um die Wilderer zu schnappen, ist ein kluges Köpfchen gefragt.
Zum Glück kennt sich Thabo mit Kriminalistik aus, denn Miss Agatha, Emmas Großtante, und er schauen am liebsten Miss Marple-Filme. Während die Kinder der Wahrheit auf der Spur sind, begleiten wir Thabo in seine Welt. Der Junge, der später einmal Detektiv und Gentleman sein möchte, erzählt von seinem Leben in Lion Park, einem Nationalpark in einem Königreich im südlichen Afrika. Er erklärt uns den richtigen Umgang mit den einheimischen Tieren, was man bei einem Gewitter beachten muss, und er schildert, wie unwissend sich die Touristen in seinen Augen verhalten – so erfahren wir nebenbei einiges über die Kultur und die Umgebung, in der Thabo aufwächst.
Fachwissenschaftliche Überlegungen
Thabo erzählt von seiner Welt, die durch ihre koloniale Geschichte geprägt ist. Emmas englischstämmiger Familie gehört das Hotel Lion Lodge und sie besucht ein britisches Internat. Thabo lebt bei seinem Onkel Vusi in einer Bedienstetenunterkunft ohne fließendes Wasser. Onkel Vusi nennt sich auf Safaris für die Touristeninnen John. Für sie ist das feine Essen und der Pool reserviert, für die Touristinnen posieren die Kinder lächelnd, auch wenn sie missachtet werden.
Wir begleiten Thabo dabei, wie er in einer globalisierten und kulturell vernetzten Welt lernt, mit den Kategorien Fremdheit, Aussehen, Herkunft und Nationalität reflektierter umzugehen. Leserinnen begleiten ihn nicht nur bei den Ermittlungen nach dem Wilderer, sondern lernen verschiedene Menschen, wie beispielsweise die Touristinnen in Lion Park, aus seiner Perspektive kennen. Oft erscheint ihm das Verhalten der Touristinnen fremd; er kritisiert sie oder macht sich über ihre Unwissenheit lustig. Dadurch haben die Lesenden die Möglichkeit, das Verhalten europäischer Reisender gespiegelt zu erleben. Mitunter werden auch dominanzkulturelle Konstellationen thematisiert, wenn Thabo z.B. sagt, die Touristinnen müssen nicht noch seine Sprache lernen, weil er sie schon dafür bewundere Englisch, Französisch und Spanisch zu können. Thabo adressiert die Lesenden direkt – „meine Damen und Herren“ – und lädt sie dazu ein, seine Perspektive zu teilen und sich zu ihr zu verhalten.
Die Gruppe der Kinderdetektive verdächtigt einen asiatisch aussehenden Mann als den mutmaßlichen Wilderer. Auch später, als sie herausfinden, dass dieser Amerikaner ist, halten sie an dem Gedanken fest, dass „der Chinese“ (Mr. Wu) der Täter ist. Der Ausgang der Handlung – es stellt sich heraus, dass Mr. Wu nicht der Wilderer ist und die Kinder ihn aufgrund seiner Erscheinung vorschnell verdächtigt haben – veranlasst Thabo, seine stereotypen Sichtweisen zu revidieren. All das gilt es, kritisch zu reflektieren und kann dazu motivieren, während der Lektüre eigene Positionen zu hinterfragen. Im Anhang des Buches wird auf Kirsten Boies langjähriges Engagement in Eswatini hingewiesen, dem Land, das das reale Vorbild für das Königreich ist, in dem Thabo lebt. Auch dass Kirsten Boie als weiße Autorin aus der Sicht eines schwarzen Jungen schreibt, kann Anlass sein sich kritisch mit dem Phänomen des ‘white saviorism’ zu beschäftigen. Auch Boie selbst setzt sich reflektiert damit auseinander (siehe Vorwort zu Dayan Koduas „Odo“). In Thabo – Der Nashornfall erzählt die Autorin von komplexen Figuren und versucht Vorurteile zu hinterfragen, statt sie zu reproduzieren.
Didaktische Überlegungen
Mit Kirsten Boies Thabo können sich Schüler*innen mit dem Thema ‚Fremdheit‘ auseinandersetzen. Dabei wird Fremdheit in Abgrenzung zu dem Vertrauten oder Eigenen verstanden und entsteht deshalb erst in der Begegnung mit ‚dem Anderen‘. Somit ist Fremdheit eine relationale Kategorie, weshalb zwangsläufig für jeden Menschen andere Dinge fremd sind. Schüler*innen können mit Thabo lernen, dass Fremdheit subjektiv ist und dass man vielfältig damit umgehen kann. Im Sinne einer Interkulturellen Literaturdidaktik ist es dabei sinnvoll, nicht von einer bereits hervorgebrachten Ordnung in ‚fremd‘ und ‚vertraut‘ auszugehen, sondern bereits bei dem Vorgang anzusetzen, durch den diese Kategorisierung entsteht: dem Befremden. Folglich geht es weniger darum, zu beschreiben oder zu bewerten, was uns an Thabo und seiner Welt fremd ist, sondern darum, zu verstehen, wie Fremdheit entsteht.
Der Roman eignet sich dafür, weil während der Rezeption viele Möglichkeiten für einen Perspektivwechsel geboten werden. Der Text inszeniert Begegnungen von Figuren mit unterschiedlicher kultureller Prägung. Weil Thabo die Rolle des Erzählers einnimmt, lernen wir als Leser*innen seine Eindrücke und Gedanken kennen, zum Beispiel in der Begegnung mit den Tourist*innen oder Emma. So entsteht durch die Erzählperspektive eine erste Perspektivübernahme der Lesenden, indem sie Thabos Sicht einnehmen. Da die Personen, denen Thabo begegnet wiederum mögliche Identifikationsmomente für die Lesenden bieten, funktionieren diese Begegnungen als Spiegel: Die Schüler*innen nehmen Thabos Sicht ein, die sich von ihrer eigenen unterscheidet und blicken dabei auf Europäer*innen. Zudem erleben Sie Thabo dabei, wie er auch seine eigenen Sichtweisen hinterfragt und Urteile revidiert. Diese Momente können in der Anschlusskommunikation genutzt werden, um eine Reflexion der eigenen Denk- und Verhaltensweisen und des eigenen Befremdens anzustoßen. Die grundlegende Interkulturelle Kompetenz, die die Schüler*innen dabei beginnen aufzubauen, ist das Einnehmen von anderen Perspektiven und ein sensiblerer Umgang mit dem Fremden. Darüber hinaus können sie in ersten Ansätzen ein dynamisches Verständnis von sozialen Deutungsmustern, wie der Fremdheit oder des Andersseins, entwickeln. Dadurch können die Lesenden auch lernen, Fremdes weniger abzuwerten.
Herausfordernd besonders für junge Leser*innen ist dabei, dass ihr bisheriges Verständnis von Fremdheit ‚auf den Kopf gestellt wird‘ und sie sich auf diese Lernerfahrung, die sie ganz persönlich betrifft, einlassen müssen.
Da Thabo in einem afrikanischen Land lebt, und unsere Gesellschaft nach wie vor von dominanzkulturellen Strukturen geprägt ist, sollten Lehrende darauf achten, Thabos Lebenswelt so zu thematisieren, dass nicht mögliches (Mit-)Leid im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht. Das Ziel für Lehrende besteht darin, eigene dominanzkulturelle Sichtweisen zu reflektieren und eine Kommunikation auf Augenhöhe anzustreben.
Einige der genannten Textstellen werden im Folgenden vorgelesen und anschließend kurz in mögliche Lernkontexte eingeordnet: