Anna Kuschnarowa: Kinshasa Dreams
Von Ann-Kathrin Venz
Inhalt
Der Roman Kinshasa Dreams handelt von Jengo Logomba, der in der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo während eines heftigen Gewitters geboren wird. Die Umstände der Geburt verleihen ihm das Stigma des „Hexenkindes“, was ihm das Überleben in Kinshasa erschwert.
Jengos Jugend ist durch den Tod seines Vaters, die anschließende Flucht seiner Mutter und den Tod des Großvaters gekennzeichnet. Das Boxtraining und seine Schwester Amali bieten ihm Antrieb und Halt.
Als Jengo ein Exorzismus-Ritual droht, beschließt er gemeinsam mit seinem Freund Jacques Richtung Europa zu fliehen. Während der Flucht verweilen die beiden längere Zeit in Kairo. Notgedrungen landen sie in einer salafistischen Glaubensschule, wo sich ihre Wege trennen. Jengo gelangt in einem zweiten Fluchtversuch schließlich über Libyen nach Paris. Jengos Leben als „Illegaler“ in Paris ist geprägt durch das Arbeiten in einem Boxclub, die enge Freundschaft mit seinen WG-Mitbewohnern, seine erste große Liebe und die stetige Angst vor der Ausweisung.
In Paris trifft Jengo sowohl seinen Freund Jacques als auch seine Mutter wieder. Doch Paris bleibt nicht Jengos letzte Etappe, weitere Hürden kennzeichnen seinen Lebensweg und er wird zu Umwegen gezwungen. Am Ende des Romans steht Jengo schließlich vor dem wichtigsten Boxkampf seines Lebens.
Audiopfad
Jengos Stationen auf der Flucht
von Kinshasa nach Berlin
Fachwissenschaftliche Überlegungen
Kinshasa Dreams handelt von den verschiedenen Lebensabschnitten eines jungen Kongolesen, der mehrfach die dramatische Flucht nach Europa bestreitet, um einerseits sein gefährdetes Leben zu retten und andererseits den Traum einer professionellen Boxkarriere zu verwirklichen. Gründe für die Flucht nach Europa, die Gefahren während einer Flucht sowie die Missachtung von Menschenrechten und Menschenwürde werden am Beispiel Jengos thematisiert. Somit überführt die Autorin ein politisch allgegenwärtiges und aktuelles Thema in eine fiktionale Geschichte.
Nachdem Jengo zu Beginn des Romans wie ein auktorialer Erzähler von seiner eigenen Geburt in Kinshasa berichtet, wird im nächsten Kapitel in Jengos Gegenwart gesprungen. Der 24-jährige Jengo befindet sich in Berlin und bereitet sich auf den wichtigsten Boxkampf seines Lebens vor. Während dieser Vorbereitungen durchlebt er gedanklich die verschiedenen Stationen seines Weges von Kinshasa nach Berlin. Der Roman ist somit von den Rückblenden in Jengos Vergangenheit geprägt, die Erzählung wechselt zwischen der Handlungsebene der Gegenwart und den Rückblenden in Jengos Vergangenheit.
Das Erzählkonzept der Rückblende und die Einbettung dieser in Jengos Gegenwart in Berlin führt dazu, dass von Beginn an klar ist, dass Jengo die dramatischen Ereignisse überleben wird. Dadurch kommt es zu einer Spannungsreduktion, die für die Leser*innen eine optimistische Haltung gegenüber Jengos Überleben während der Erzählung dramatischer Ereignisse aufrechterhält. Außerdem berichtet der Ich-Erzähler in bildhafter Jugend- und Umgangssprache von seinem Lebensweg. Die ironische und abgeklärte Art des Erzählers ebenso wie die Konzeption der Erzählung als Rückblende machen das anspruchsvolle und emotionale Thema der Flucht für Leser*innen zugänglicher. Der Wechsel zwischen den verschiedenen Zeitebenen, Jengo als Ich-Erzähler und die unterschiedliche Verdichtung der erzählten Zeit sind die zentralen Elemente der Fiktionalität des Romans.
Auch wenn Jengo sich wie folgt beschreibt „ein Held bin ich nicht. Ich bin nur ein schwarzer Mann, der hofft, nicht allzu viel Unheil angerichtet zu haben in seinem Leben“ (S. 105), sind sein Kampfgeist, sein Durchhaltevermögen sowie seine Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit und Loyalität heldenhafte Charakterzüge. Des Weiteren wird Jengo nicht nur auf seine Fluchterfahrungen reduziert. Zentral für die Figur sind die Beziehungen zu Freunden und Familienmitgliedern. Insbesondere von seiner Zeit in der WG in der Pariser Banlieue berichtet er ausführlich. Durch die Beschreibung von Jengos Emotionswelt wird dieser zu einer facettenreichen Figur, die nicht primär über seine Fluchterfahrung konzipiert ist. Insbesondere als er um seinen Großvater trauert oder sich unsterblich in ein Mädchen verliebt, wirkt Jengo nahbar.
Verschiedene sprachliche Bilder werden während der Erzählung immer wieder aufgegriffen: Das Wetter dient als Metapher für Jengos Emotionswelt und als Vorbote von dramatischen Ereignissen, der Mangobaum dient als Bild für den Zustand der Familie und den Schutz Jengos und der Boxsport als übergeordneter Vergleich für das Kämpfen im Leben. Im Allgemeinen ist die Sprache des Ich-Erzählers durch viele Bilder gekennzeichnet.
Auch wenn die Erzählung stellenweise das Rezeptionsgefühl des Lesens einer Biographie hervorrufen könnte, handelt es sich um die fiktionale Darstellung der Autorin Anna Kuschnarowa. Aufgrund der Diskrepanz der Erfahrungswelt zwischen Autorin, Leser*innen und Ich-Erzähler bleibt die Frage zu diskutieren, wer berechtigt ist, das Thema Flucht fiktional aufzuarbeiten. Auch wenn die Beurteilung aus europäischer Perspektive schwerfällt, scheint es der Autorin zu gelingen, realitätsnah über die Etappen einer Flucht zu berichten. Der Zwiespalt, ob das Thema Flucht und Migration als spannende Unterhaltungslektüre durch westliche Autor*innen behandelt werden sollte, bleibt zu diskutieren. In jedem Fall kann der Roman für das Thema sensibilisieren und die Empathie für Mitmenschen mit Fluchterfahrung verstärken.
Didaktische Überlegungen
Der Roman ist insbesondere dazu geeignet, Leser*innen für das Thema Flucht und Fluchterfahrungen zu sensibilisieren und die Empathie für Menschen mit Fluchterfahrung zu fördern.
Menschen mit Fluchterfahrung sind schon lange fester Bestandteil der vielfältigen deutschen Gesellschaft. Häufig scheint es, als fokussierten Medien die europäische Außenperspektive auf Flucht und Migration, wohingegen der Innenperspektive von Menschen mit Fluchterfahrung seltener Raum gegeben wird. Durch die Außenperspektive werden geflüchtete Menschen auf die Kategorie „Flüchtling“ reduziert. Anna Kuschnarowa präsentiert in ihrem Roman die Innenperspektive eines facettenreichen Menschen mit Fluchterfahrung.
Der Ich-Erzähler, dessen Realität wenige Schnittmengen mit der Realität der Leser*innen hat, wird für diese durch die direkt beschriebenen Emotionen wie Trauer, Verliebtsein und Angst nahbar. Außerdem trägt auch die verwendete Jugendsprache und der Slang Jengos zu einer einfacheren Identifizierung für junge Leser*innen bei.
Der dargestellte Lebensweg Jengos mit den vielen dramatischen Ereignissen ist aufgrund der Thematik eine anspruchsvolle Lektüre, die sensibel rezipiert werden sollte und literarischer Gespräche im Unterricht zur Aufarbeitung bedarf. Die Konzeption der Erzählung von Jengos Lebensweg als Rückblende macht die Lektüre für Schüler*innen zugänglicher. Diese Konzeption ist notwendig, um die Dramatik von Jengos Lebensweg aushalten zu können. Gleichzeitig ist das Wissen über Jengos Gegenwart in Berlin für Leser*innen so gering, dass der Text weiterhin spannend bleibt. Der Autorin gelingt somit eine gute Balance von Spannungsreduktion und Spannungserhaltung, die die Erzählung zu einem gelungenen Roman für Jugendliche und junge Erwachsene machen.
Bietet der Roman einerseits die Chance, die Perspektive von Menschen mit Fluchterfahrung durch ein fiktives Beispiel besser nachzuempfinden, ergibt sich gleichzeitig die Gefahr einer Generalisierung. Somit muss mit den Schüler*innen thematisiert werden, dass es sich um eine fiktionale, exemplarische Darstellung handelt. Aufgrund der genannten Herausforderungen bei der Rezeption des Romans, eignet sich dieser vor allem für Schüler*innen der 10. Klasse oder der Sekundarstufe II. Kinshasa Dreams kann nicht nur im Deutschunterricht gelesen werden, eine Unterrichtsreihe zu dem Roman bietet sich auch im Politik-, Geografie- oder Philosophieunterricht an. Insgesamt ist der Roman für eine fächerübergreifende Unterrichtsreihe zum Thema Flucht und Migration geeignet.
Der Roman bietet außerdem die Möglichkeit, die Auswirkungen verschiedener Genres (fiktionaler Roman, Biographie, Autobiographie) auf die Leseerfahrung zu diskutieren und die Leserlenkung durch gestalterische Elemente zu reflektieren. Auszüge aus einer Biographie mit ebendieser Thematik können als Vergleich herangezogen werden. Ebenfalls bietet sich die Diskussion an, welche Themen fiktional in Belletristik durch Autor*innen verarbeitet werden können sowie die Frage danach, welche Chancen und welche Grenzen die Erzählung fremder Lebensrealitäten durch Autor*innen bergen kann.