Saci Lloyd: The Carbon Diaries. Euer schönes Leben kotzt mich an
Von Bettina Wild
Vorbemerkung
Das Jugendbuch ist im englischen Original erstmals 2008 und in deutscher Übersetzung erstmals 2009 erschienen. 2021 erfolgte – aus Gründen der anhaltenden Aktualität des Themas – eine Wiederauflage.
Inhalt:
2015: Nach verheerenden Stürmen und daraus resultierender Energieknappheit in Europa hat die britische Regierung ein Gesetz erlassen, das den C02-Ausstoß eines jeden Bürgers drastisch reguliert.
Doch ist die Umweltkatastrophe nicht aufhaltbar, wenn sich nicht alle Staaten der Erde beteiligen, und so folgt auf einen extremen Winter und einen ebenso extremen Sommer am Ende des Jahres eine große Flutkatastrophe, die Londons Zivilisation buchstäblich wegschwemmt.
Zunächst möchte die 16jährige Laura Brown nur eines: Sie möchte ihr normales (Familien)Leben zurück. Und so kämpft sie vor der Kulisse des allmählich untergehenden Londons im Jahresverlauf um Normalität und am Ende des Jahres gar um ihr Überleben und das ihrer Familie.
Fachwissenschaftliche Überlegungen
„The Carbon Diaries“ umfasst die Tagebucheinträge der 16jährigen Laura Brown vom 01.01. bis zum 31.12.2015. Laura präsentiert sich dem Leser in ihren Aufzeichnungen in keinster Weise als Klimaaktivistin, sie erscheint nicht als junge Frau mit Potential zur Heldin, sondern als durchschnittlicher Teenager. Ihre Gedanken kreisen um ihre Punk-Band, um den Nachbarjungen, in den sie verliebt ist, um ihre (schlechten) schulischen Leistungen, um ihre Familie (die parallel zur Zerstörung der Umwelt zu zerbrechen droht) sowie – aus gegebenem Anlass und weniger aus eigenem Interesse – um ihren CO2-Ausstoß und die klimatischen Veränderungen und ihre Auswirkungen.
Beim Lesen tauchen wir kompromisslos in die Gedankenwelt der 16jährigen ein, in der die Naturphänomene und die Maßnahmen der Regierung zur Verminderung des CO2-Ausstoßes (besonders in der ersten Hälfte des Tagesbuchs) als mal mehr mal weniger störende Hintergrundmusik erscheinen. Damit ist es keine inhaltliche Schwäche, vielmehr eine erzählerische Stärke, dass die ‚Berichterstattung‘ über das ökologische Geschehen und die Maßnahmen der Regierung nicht kohärent und en Detail nachvollziehbar ist, denn erzählt wird, was Laura wahrnimmt und wie sie es wahrnimmt.
Ich fühlte mich unbeschreiblich allein gelassen. Auf gewisse Art hatte er ja recht. Vielleicht war es bloßes Wunschdenken, dass die Rationierung nur für einen begrenzten Zeitraum galt. Aber als ich hier stand, auf einem Zeltplatz in New Forest, begriff ich es endlich. Das ist jetzt mein Leben. Wieso haben die Menschen es so weit kommen lassen? Selbstsüchtige Mistkerle! (S. 229)
Erst langsam wächst in Laura die Erkenntnis der existenziellen Bedrohung, womit der dystopische Charakter in den Vordergrund rückt, das Erzählte gewinnt so bis zum dramatischen Höhepunkt im Dezember immer mehr an Intensität.
Saci Lloyd entwirft mit ihrem Jugendroman das Szenario vor dem Einsetzen der Handlung einer klassischen (jugendliterarischen) Umwelt-Dystopie, in der die Neuordnung einer Gesellschaft nach einer Umweltkatastrophe dargestellt wird. Der Jugendroman wird damit zu einem interessanten Gattungshybrid, der sich elegant zwischen Realismus und Surrealismus bewegt und immer wieder von ernsthafter Inszenierung der außerordentlichen Bedrohung zu humorvoller Darstellung des ganz normalen jugendlichen Wahnsinns changiert. Dabei wird in z.T. durchaus ironischer Weise mit den Versatzstücken der Umwelt-Dystopie gespielt, wenn bspw. die Familie als Auszeit eine Woche im Wald lebt, um dort ihren „inneren Wolf“ zu finden, womit Szenerien von Umwelt-Dystopien, die von einer Vernichtung der Zivilisation und einem Neubeginn in ‚Urwelten‘ ausgehen, evoziert werden. Doch gerade durch diese ‚erzählerische Unentschlossenheit‘ ist der Jugendroman an vielen Stellen umso anrührender und aufwühlender – und regt damit hoffentlich zum (Um)Denken an. Besonders nachdem der Jugendroman über weite Teile auch humoristische Anteile hatte, wirkt das offene Ende – das gleichsam der Beginn einer neuen Zeitrechnung für Laura und mindestens alle Londoner bedeutet – besonders erschütternd, der Einbruch der Katastrophe in die Normalität wird damit fast greifbar.
Didaktische Überlegungen
„The Carbon Diaries“ führt in drastischer Weise die Auswirkungen des Klimawandels vor Augen und lädt damit in unaufdringlicher Weise immer wieder dazu ein, das eigene Verhalten zu reflektieren.
Diese ‚Aufforderung zur Reflexion‘ scheint über weite Strecken durch die Alltäglichkeit von Lauras Einträgen verschleiert, so wird von den Klimaveränderungen und den daraus resultierenden (ökologischen, gesellschaftlichen und politischen) Konsequenzen neutral, z.T. fast emotionslos berichtet; diese Themen sind zunächst nicht mehr als ein Teil von Lauras Leben und bestimmen ihr Denken nicht mehr oder weniger als die Themen Familie, Freundschaften, Verliebtheit und Schule. Durch dieses vollständige Fehlen einer Erzählinstanz, die moralisch wertend kommentiert oder eingreift, bleibt es vollkommen dem Leser überlassen, die Tragweite des Erzählten zu erkennen, zunächst im Nachvollzug der Handlung und in einem weiteren Schritt in der Übertragung auf die außerliterarische Realität. Womit gleichermaßen ein großes didaktisches Potential wie eine ebenfalls große didaktische Herausforderung des Jugendromans benannt ist.
Dabei bietet der Jugendroman zahlreiche Gesprächsanlässe, es bleibt nur der Leserschaft (oder der Lehrperson) überlassen, welche Themen zur weiteren Reflexion aufgegriffen werden:
- Wie viel ‚Schuld‘ oder ‚Verantwortung‘ trägt die (Groß)Eltern-Generation?
- Wann ist Protest sinnvoll? / Wie ist Protest sinnvoll? / Wann ist Protest nur Attitude? (vgl. den Namen von Lauras Punk-Band „Euer schönes Leben kotzt mich an“)
- Welche Form der staatlichen Regulierung von Protest ist legitim? / Wann ist der Einsatz staatlicher (und polizeilicher) Gewalt legitim?
- Wie ‚ehrlich‘ erscheinen Zurück-zur-Natur-Bewegungen?
- Wie sinnvoll (und im allgemeinen Sinne realistisch) erscheint der radikale Versuch des Vaters, die Umweltprobleme durch Selbstversorgung im städtischen Garten zu lösen?
- Wie wichtig sind individuelle oder familiäre Probleme angesichts einer großen (Umwelt)Katastrophe?
- Wie viel ‚Egoismus‘ ist individuell erlaubt und ‚normal‘? / Wann wird individueller Egoismus zur gesellschaftlichen Bedrohung?
- Wie wichtig ist der Feminismus (und andere ähnliche Bewegungen) angesichts einer großen (Umwelt)Katastrophe? / Gibt es eine Hierarchisierung (gesellschafts-)politischer Themen?
- Wie sinnvoll ist die Parallelisierung von historischen Erfahrungen der Weltkriege und (antizipierten) Szenarien möglicher Umweltkatastrophen?
Durch die aufgezeigten erzählerischen Besonderheiten, die ihn zu einem Gattungshybrid macht, bietet „The Carbon Diaries“ darüber hinaus viel für einen Unterricht, der literarisches Lernen mit politischer Reflexion verknüpft.