Katja Brandis: Woodwalkers. Carags Verwandlung
Von Kaniwar Birhimeoglu und Milan Kaufmann
Aufgenommen in den Leipziger Lesekompass 2017, das Urteil der Jury: „Temporeich, spannend und witzig – mit zahlreichen Anknüpfungspunkten zum Alltag der Zielgruppe!“
Inhalt
Der Jugendroman „Woodwalkers“ der deutschen Schriftstellerin Katja Brandis aus dem Jahre 2016 handelt vom Gestaltenwandler Carag, der in seiner Pumafamilie aufwächst. Sie haben die Fähigkeit, sich zu Menschen zu verwandeln. Eines Tages begibt sich Carag mit seiner Mutter und der Schwester Mia bei einem Ausflug unter die Menschen. Die ungewisse Zugehörigkeit zu Tier- oder Menschenwelt löst in Carag einen Konflikt aus, an dessen Ende er seine Familie verlässt, um sich auf eine Selbstfindungsreise als Mensch zu begeben. Nach anfänglichen Schwierigkeiten auf einer Highschool und bei einer überwiegend distanzierten Gastfamilie bietet sich ihm die Möglichkeit, eine Schule für Woodwalker zu besuchen, die es sich zur Aufgabe macht, die Verwandlungsfähigkeiten der Kinder zu schulen und sie auf das Leben in der Menschenwelt vorzubereiten. Nachdem der reiche Amerikaner Andrew Milling Carags Menschenfamilie besucht und die Schule für Gestaltenwandler empfiehlt, steht fest: Carag wechselt auf die Clearwater High. Dort treffen verschiedenste Tierwandler aufeinander, zu denen seine Freunde, das Rothörnchen Holly, der Bison Brandon und der Kater Dorian gehören. Dass auch Milling ein Wandler ist, bleibt Carag nicht verborgen. Er hasst die Menschen und will sich gegen sie richten, mit Carag als seinem Verbündeten. Dieser lehnt das Vorhaben jedoch ab und Milling droht mit Konsequenzen.
Fachwissenschaftliche Überlegungen
Diversität ist, wenn man den Roman aus einer gesellschaftspolitischen Perspektive betrachtet, eines der zentralen Themen und wird inhaltlich auf zwei Ebenen präsentiert. Menschen und Woodwalker lassen sich eindeutig unterscheiden: Diversität ergibt sich aufgrund von Herkunft und Geburt. Die menschliche Gesellschaft unterdrückt diese Diversität, beispielsweise muss Carag bei den Menschen einen anderen Namen tragen – Jay. Doch auch innerhalb der Woodwalker selbst ergeben sich Unterschiede auf Grund der verschiedenen Eigenschaften der jeweiligen Tiere. Im Vordergrund stehen die Abenteuer Carags und seiner Freunde sowie die Faszination der phantastischen Welt, in der Diversität durch die unterschiedlichen Wesenszüge der Woodwalker präsentiert wird. Brandis inszeniert diese gemäß menschlich-stereotypischen Tiervorstellungen, wodurch gesellschaftliche Klischees und Stereotype gegenüber fremden Ethnien gespiegelt werden. Carag zeigt sich als Puma talentiert im Kampf und ist mutig, Brandon der Bison agiert tollpatschig und die Gruppe der Wölfe tritt als gemeines, streitsüchtiges Rudel mit Anführer auftritt. Dies hat freilich zur Folge, dass der Roman selbst stereotype Figuren entwirft. Zugleich lädt er allerdings dazu ein, stereotype Zuweisungen zu hinterfragen, im Roman wie auch in der Realität.
Das Verhältnis zur eigenen Tiergestalt ist dabei jedoch in hohem Maße individuell, geprägt von den persönlichen Erfahrungen sowie dem Einfluss der Eltern. Daraus resultiert sowohl eine unterschiedliche Zufriedenheit der Figuren mit ihrer tierischen Gestalt als auch eine gewisse (Nicht-)Begabung in Bezug auf ihre Verwandlungskünste, was auf eine Blockade aufgrund der Nichtakzeptanz der eigenen Identität zurückzuführen ist. Exemplarisch zeigt sich dies bei der Spinnen-Wandlerin Juanita:
Ich will aber nicht, hörte ich eine zarte Mädchenstimme in meinem Kopf und schaute mich erstaunt um. Dann sah ich die kleine schwarze Spinne, die ihr Netz in einer Ecke nahe der Tür gesponnen hatte. (S. 89)
Neben der Verwandlungsfähigkeit verweist diese Textstelle zudem auf ein weiteres phantastisches Element des Romans. Juanita spricht mittels ihrer Kopfstimme, einer eigenen Kommunikationsmöglichkeit der Woodwalker auf nahe Distanz. Während das Verhältnis zur eigenen Tiergestalt die Diversität innerhalb der Woodwalker unterstreicht, sorgen die Verwandlung und die Kopfstimme für eine Differenzierung gegenüber den Menschen.
Zwischen den Woodwalkern herrschen demzufolge verschiedene Dynamiken und Beziehungen. Es existierten Freundschaften, Abneigungen, Räuber-Beute-Verhältnisse und sogar Liebe, die über die eigene Tierart hinausgehen und dem natürlichen Fressverhalten entgegenstehen kann. Trotz der Diversität fördert die Schule ein Miteinander der Woodwalker und stellt dies durch eigene Schulregeln sicher. Im Gegensatz zu anderen Kinder- und Jugendromanen erfolgt die Darstellung von Diversität also nicht explizit, sie findet – durch die Übertragung auf unterschiedliche Tierarten – in subtiler Weise statt und ist in eine Abenteuergeschichte mit phantastischen Elementen eingebettet. Erst durch die intensive Auseinandersetzung ergeben sich mögliche Themenfelder, die aus der Handlung und dem Setting resultieren.
Immer wieder wird der Umgang von Menschen mit Tieren thematisiert und sogar kritisiert. Während typische Haustiere – wie beispielsweise Kater – von den Menschen fürsorglich behandelt werden, werden andere in Heimen eingesperrt, gejagt und misshandelt. Außerdem macht die Aufnahme Carags in eine Gastfamilie Adoption zum Thema. Er fühlt sich unwohl und pflegt (mit Ausnahme zur Mutter Anna) keine gute Beziehung zur neuen Familie, vermisst gleichzeitig seine alte, zu der er keine Kontaktmöglichkeit mehr hat. Darüber hinaus hat Carag auf beiden Schulen mit verschiedensten Klassenkameradinnen und Kameraden zu tun, die ihn schikanieren. Es formieren sich Gruppen, die zusammen Zeit verbringen, lernen und trainieren, aber auch gemeinsam kämpfen und Abenteuer beschreiten. In diesem Kontext lassen sich die Themen Peer Groups und Mobbing identifizieren.
Eine besondere Bedeutung kommt in Woodwalkers der Migrations- und Assimilationsthematik zu. Schließlich müssen die Gestaltenwandler lernen, sich gemäß den Konventionen und Gepflogenheiten der menschlichen Gesellschaft zu verhalten und nicht aufzufallen, da ihre Existenz den Menschen nicht bekannt ist und auch nicht bekannt werden soll. Der Balanceakt zwischen den zwei Identitäten, nämlich der menschlichen und der tierischen, fällt den meisten jungen Woodwalkern schwer. Woodwalkers ist von einer Spiegelung des Realen im Phantastischen geprägt. Viele Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund stehen vor der Herausforderung, beide Identitäten in Einklang zu bringen und den jeweiligen Kulturen gerecht zu werden. Dieses Schicksal zeigt sich unter anderem anhand der Namensgebung des Protagonisten: Carag ist der Name, mit dem er aufwächst und als Puma und Woodwalker assoziiert wird, während er bei den Menschen Jay heißt.
Die tierische Identität kann als Zugehörigkeit zu einer Ethnie gedeutet werden, die im Verborgenen ausgelebt wird und die im Kontakt mit der menschlichen Mehrheitsgesellschaft unterdrückt werden muss. Tierisches Verhalten oder Aussehen führt zu Irritationen und Missverständnis bei den Menschen, die Konsequenzen zur Folge haben können. Beispielsweise sorgt Carag als Puma auf einem Campingplatz allein durch seine bloße Anwesenheit für Schrecken. Aus Angst davor erschossen zu werden, ergreift er die Flucht (vgl. S. 29f.). Genauso wie Carags Aussehen gewisse Gefühle und Assoziationen bei den Menschen auslöst (Puma = Gefahr), werden in der Realität bestimmte äußerliche Merkmale bei Menschen mit Migrationshintergrund von der Mehrheitsgesellschaft mit bestimmten (negativen) Eigenschaften in Verbindung gebracht. Die Eigenschaften, die den Tieren zugewiesen werden, können im übertragenen Sinne also auch auf tatsächlich existierende, ethnische Stereotype in der Gesellschaft bezogen werden. Kritisch kann an dieser Stelle diskutiert werden, inwiefern und inwieweit die Domestizierung (wilder) Tiere und deren Anpassung an die menschliche Zivilisation Assoziationen rassistischer Argumentationsmuster weckt. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Zuschreibungen der tierischen Eigenschaften der Gestaltwandler nicht (nur) soziale Konstruktionen sind, sondern, z.T. durchaus zoologischer Realität entsprechen, schließlich ist der Puma ein Raubtier, wenn auch kein für den Menschen wirklich gefährliches. In der einseitigen Konzentration auf die gefährlichen (oder auch nur abweichenden) Eigenschaften der tierischen Gestalt durch die menschliche Gesellschaft inszeniert der Roman die Abwehr fremder Kulturen durch Mehrheitsgesellschaften. Mit der Darstellung der Identitätsproblematik Carags wiederum übt der Roman Kritik an einer Gesellschaft, die vollständige Assimilation verlangt.
Didaktische Überlegungen
Die Vielschichtigkeit des Romans durch die Phantastik, die Tier-, Menschen- und Woodwalker-Welt sowie die Figuren und deren Ausgestaltung eröffnen den Lesenden neben einem Repertoire an spannenden Inhalten zahlreiche Möglichkeiten der Identifizierung. Der Roman bietet mit seinem Protagonisten Carag, der sich in einem Identitätsdilemma befindet, eine Projektionsfläche im Sinne Spinners für die entsprechenden Gefühle der jugendlichen Leserinnen und Leser und kann durch solche Betroffenheit eine intensiv mitvollziehende, genaue Lektüre bewirken. Carag fühlt sich zunächst sowohl als Puma, als auch daraufhin als Mensch nicht vollends angekommen, ist ein Fremder in zwei parallel existierenden Welten, die ihm beide nicht genug sind, da er sein wahres Ich in beiden nicht zu zeigen vermag. So vermittelt ihm sein Vater bereits nach seinem ersten Kontakt mit der Menschenwelt die Abneigung gegenüber den Menschen – und damit einem Teil von Carag –, als dieser andeutet, dass er sie als nett empfunden hat (vgl. S. 15). Im weiteren Verlauf des Romans, als Carag, nun Jay, bei seiner menschlichen Familie lebt, ist er in Gegenwart seiner Gastmutter Anna dazu genötigt, erneut sein Ich zu untergraben und den ihm naturgegebenen Impuls, sich zu verwandeln, zu unterdrücken (vgl. S. 51f.). Ein Rückbezug auf das eigene Ich und die Erinnerung an ähnliche Situationen des Verstellens gegenüber anderen erlaubt es den Lesenden, eine Bindung zu Carag aufzubauen.
Das empathisch-intensive Identifikationspotential resultiert im Gesamtkontext jedoch nicht nur aus der Inszenierung von Fremdsein, sondern auch aus der Erzählperspektive, die die Lesenden die Geschehnisse aus der Perspektive Carags miterleben lässt, dessen Gedanken und Empfindungen aufgreift, seine Meinung zu Tieren, Menschen und Woodwalker geltend macht und somit einen engen Zugang zur Hauptfigur erschafft, deren Konsequenz ein bildhaftes Durchleben ist, ein Blick aus den Augen Carags. Für Schülerinnen und Schüler offeriert der Roman in erster Linie eine Geschichte, die spannend ist und die durch ihr phantastisches Gewand Neugier erweckt. Lesemotivation und -freude zu wecken kann daher einer der Grundgedanken sein, wenn Woodwalkers im Schulunterricht eingesetzt werden soll. Dem Roman wohnt zunächst einmal kein belehrender Impuls inne, denn Diversität wird nicht explizit zur Schau gestellt. Bei genauerem Hinsehen ergeben sich, wie gezeigt wurde, dennoch zahlreiche Anknüpfungspunkte, die für den (fächerübergreifenden) Einsatz im Unterricht spannend sein können. Hierzu zählen zweifelsohne auch die Geschichte von Carags Migration und die Auseinandersetzung mit Assimilation.
Laut statistischem Bundesamt aus dem Jahre 2021 haben 22,6 Millionen in Deutschland lebende Menschen Migrationshintergrund – das entspricht mehr als einem Viertel der Gesamtbevölkerung (vgl. hier). Migration ist demnach ein Thema von gesellschaftlicher Relevanz und benötigt gerade wegen des hohen Anteils an Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund einen Platz im Unterricht. Alle Figuren in Woodwalkers – und insbesondere Carag – bieten durch ihre Individualität, ihre unterschiedlichen Eigenschaften und ihr Alter, welches in etwa dem der Schülerinnen und Schüler als Rezipienten entspricht, ein hohes Maß an Identifikationspotential. Für den Literaturunterricht ist Woodwalkers zunächst vor allem deshalb interessant, weil es zum Lesen motivieren kann und den Spaß in den Vordergrund stellt. Der Roman bietet mit Blick auf die Identifikationsmöglichkeiten durch mit Carag eine Fülle an Lerngelegenheiten. Das Hineindenken in eine Figur, die Nachvollziehbarkeit seiner Ansichten und das Aufbringen von Verständnis für Meinungen anderer, was letztlich in einer Perspektivübernahme resultieren kann, wird auch durch erzählerische Besonderheiten des Romans gefördert. Diese können somit als Anregung für das literarische Lernen klassifiziert werden. Dazu zu zählen ist Carags signifikante Sprache, speziell was den Ausdruck von Emotionen angeht. „Eulendreck, das hatte ich ja schön verkatzt“ (S. 31), lautet Carags Gedanke, als er einen Zeitungsartikel über seinen nächtlichen Ausflug in seiner Pumagestalt auf einem Campingplatz liest. In derselben Nacht heißt es: „Beim hüpfenden Wildschwein, ich war über eine Zeltschnur gestolpert“ (S. 30). Während derlei Äußerungen abermals Carags doppelte Identität durch die Tiermetaphorik untermauern, laden sie gleichermaßen dazu ein, seinen tierischen Part zu verstehen und sich mit diesem auseinanderzusetzen, sich auf eine neue Perspektive einzulassen. Verstärkt wird dieser Effekt durch die Ich-Erzählperspektive, die die Lesenden an der Gedankenwelt des Protagonisten teilhaben lässt. Nichtsdestotrotz findet sich auch immer wieder wörtliche Rede und Dialog zwischen den Figuren, was verhindert, dass eine allzu einseitige Sicht auf die Handlung entsteht, und einen Zugang zu möglichen anderen Positionen gewährleistet. Somit wird die Geschichte zwar eindeutig aus dem Blickwinkel einer bestimmten Figur erzählt, mit der der Leser die Handlung erlebt, ermöglicht aber gleichwohl eine konkrete Vorstellung der Interaktionen dieser Figur mit anderen.
Wegen seiner Vielschichtigkeit, Tiefe und dem adressatengerechten Schreibstil ist Woodwalkers als Jugendroman besonders für den Unterricht der Mittelstufe geeignet. Es braucht gerade dort mehr solche Literatur, die Lesefreude und somit Textverständnis fördert. Woodwalkers weckt zudem Interesse an und ermöglicht die Auseinandersetzung mit tiefergehenden gesellschaftspolitischen Diskursen.