Mehrnousch Zaeri-Esfahani: 33 Bogen und ein Teehaus

© Peter Hammer, 2016
Von Elena Sofia Ferdinand und Silvia Singer

Vorbemerkung:

Der Beitrag entstand nach einer Lesung mit Werkstattgespräch an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, bei der die Sozialpädagogin, Autorin und Referentin Mehrnousch Zaeri-Esfahani nicht nur die Studierenden mit ihrer ganz besonderen Art des Storytelling in den Bann gezogen hatte.

Gerade auch für schulische Kontexte kann eine solche Veranstaltung sicher gewinnbringend sein.

Informationen finden Sie hier.


Inhalt

Die Protagonistin und Erzählerin des autobiografischen Romans „33 Bogen und ein Teehaus“ Mehrnousch Zaeri-Esfahani verbringt die ersten Jahre ihrer Kindheit in Isfahan im Iran. Doch als die islamische Revolution das Land verändert und der Führer Ayatollah Chomeini an die Macht kommt, kommt es schließlich zum Krieg. Unzählige Verbote werden verhängt, den Menschen wird jede Freude genommen. Kinder werden manipuliert, ausgehorcht und letztendlich als Kindersoldaten in den Krieg geschickt. Der Familie Zaeri-Esfahani bleibt keine andere Wahl: Sie müssen aus ihrem geliebten Heimatland fliehen. 14 Monate ohne Heimat folgen. Über die Türkei und Ostberlin gelangt die sechsköpfige Familie schließlich nach Westberlin, wo ihre Reise durch verschiedene Flüchtlingsheime und Bundesländer beginnt. Dort werden sie mit anderen Problemen und Schwierigkeiten wie Sprachschwierigkeiten, Ausgrenzung durch Hass, Rassismus und Mobbing, konfrontiert. Doch Mehrnousch gibt nicht auf und sie und ihre Eltern sowie Geschwister bauen sich in Heidelberg ein neues Leben in Frieden auf.


Stationenkarte von Mehrnouschs Reiseroute,
erstellt mit MURAL, https://www.mural.co/

Fachwissenschaftliche Überlegungen

Die Autobiografie „33 Bogen und ein Teehaus“ beginnt im Iran der 70er Jahre und der Schilderung der Kultur-Revolution, die zur Diktatur führt, ohne dass die Bevölkerung dies erwartet hätte. Anfangs herrscht eine mitreißende Begeisterung für den neuen Führer. Auch Mehrnousch liebt ihn und die von ihm verheißene ‚verrückte‘ Revolution. Dies ändert sich jedoch nach dem Putsch gegen den Schah und der Machtübernahme durch Chomeini. Die Lektüre gibt einen historischen Einblick in die politischen Umstände im Iran und sensibilisiert für die Fragilität politischer Systeme.

Das Werk enthält damit eine Vielzahl politischer Themen: Missachtung von Menschenrechten, Unterdrückung der Bevölkerung sowie Abschottung zum Westen durch den neuen Führer Ayatollah Chomeini sind für die Erzählerin Mehrnousch und den Rest der Bevölkerung Alltag geworden. Sie müssen sich an unzählige Verbote halten, sodass jeglicher Spaß im Leben versiegt.

Verliebt sein war ebenfalls verboten. (S.40)

Furcht und Schrecken sind ein ständiges Begleitgefühl. Gerade Kinder sind in diesem Land gefährdet; sie werden instrumentalisiert, um ihre Eltern auszuhorchen. Darüber hinaus werden sie zu Soldaten sozialisiert. Der Krieg wird verharmlost mit dem Ziel, Euphorie bei den Jungen zu wecken, damit auch sie in den Krieg ziehen wollen. Dort werden sie zur Mienenbeseitigung eingesetzt und kehren selten zu ihren Familien zurück.

Sie fragten uns sogar über unsere eigenen Eltern und Verwandten aus. Und wir mussten lügen. Bald log ich sehr oft und sehr gut. Denn unsere Eltern, Tanten, Onkel, Großeltern und Geschwister, eigentlich fast alle, taten tagtäglich viele verbotene Dinge, da alles verboten war. (S.41)

Mehrnousch hat eine kleine Schwester und zwei größere Brüder. Mit 15 Jahren müssen Jungen im Iran in den Krieg. Als ihr ältester Bruder diesem Alter immer näherkommt und sich die Umstände im Land weiter verschlechtern, bleibt der Familie Zaeri-Esfahani – trotz ihrer finanziellen sowie sozial guten Stellung – als einziger Ausweg die Flucht, um ein Leben in Frieden und Freiheit leben zu können. Damit wird die Thematisierung von Heimat sowie Heimatlosigkeit zum immanenten Bestandteil des Werks. Dabei lässt die Autorin den Leser oder die Leserin authentisch daran teilhaben, wie ihre politisch motivierte Flucht vonstattenging. Dies zeigt den Lesenden eindrucksvoll, dass es erforderlich sein kann, den eigenen Wohlstand für ein Leben in Freiheit und Frieden aufzugeben. Dabei werden Themen wie Freiheit, Zusammenhalt und Neuankunft ins Zentrum gerückt, was eine philosophische Ausrichtung der Textbegegnung im schulischen Kontext ermöglicht.

Die Autorin Mehrnousch verarbeitet ihre Gefühle, Erfahrungen und Gedanken in autobiografischer Form, was bei den LeserInnen eine intensive Rezeptionshaltung hervorrufen kann. Die Fähigkeit der Perspektivübernahme wird so gefördert. Mitgefühl und Empathie können beim Lesen aufkommen, dies wird durch die authentische Erzählweise der Autorin unterstützt. Das Werk ist zudem durch einen besonderen, poetischen Schreibstil gekennzeichnet. Jedes Kapitel fängt mit der Beschreibung und Personifizierung des Flusses an, der durch den Handlungsort fließt. Die eindrucksvolle Atmosphäre, die die Autorin durch die lebhafte und gleichermaßen poetisch-metaphorische Erzählung ihrer Kindheit schafft, ermöglicht es den Lesenden, sich den Stationen ihrer Reise nach Deutschland hinzugeben. Das folgende Zitat untermauert diese Wirkung:

Die Havel ist ein hübsches Flüsschen, das sich wie eine Kette mit großen Perlen rund um das Havelland legt. Die Perlen werden von den vielen kleinen Seen gebildet, die sich an die Havel reihen. Die Havel entspringt in Ostdeutschland, der damaligen DDR. So könnte man auch sagen, dass es vielleicht die Havel war, die meine Familie und mich still und unmerklich auf unserem Weg von Ost nach West begleitet und beschützt hat. (S.87)

Mehrnousch beschreibt ihre Gefühle und Gedanken aus der Perspektive des Kindes, das sie früher einmal war und dennoch klingt ein sehr weiser Erzählton nach. Ein Beispiel für die kindliche Erzählperspektive und den dennoch sehr poetischen und gefühlvollen Schreibstil bietet folgendes Zitat:

Aber ich wollte den Mond nicht sehen. Nie mehr. Es war seine Schuld, dass ich kein Zuhause mehr hatte. (S.83)


Migration & Flucht
  • Fluchtursachen (Unterdrückung, Krieg, …)
  • Flucht als einzige Option, um in Freiheit und Frieden leben zu können
  • Verlusterfahrungen durch Flucht (emotional, sozial, ökonomisch)
  • Ankommen in einem neuen Land
  • Sprachbarrieren
  • Ideale der Freiheit (im Hinblick auf die Freiheiten, die Mehrnousch in Deutschland erlebt aufgrund der intakten Infrastruktur des Landes)
Identität
  • Identitätsverlust
  • Multikulturalität, Vereinigung kultureller Einflüsse
  • Alteritätserfahrungen in Auseinandersetzung mit den deutschen Mitschüler_innen
  • Adaption / Akkommodation an neue Lebensumstände
Revolution
  • Gefahr eines „Führers“
  • Putsch im Iran
  • Fragilität des sicheren Zusammenlebens durch Verbote, Furcht und Manipulation

Didaktische Überlegungen

Die Protagonistin des Werkes ist zu Beginn des Romans im Iran erst fünf Jahre alt. Im Alter von elf Jahren flieht sie mit ihrer Familie. Am Ende der Flucht, in Heidelberg, ist das Mädchen dreizehn Jahre alt. Somit befindet sie sich in einem ähnlichen Alter wie die SchülerInnen, was die Identifikation mit ihrer Person erleichtert. Darüber hinaus wird die emotionale Beteiligung der Lesenden gefördert, indem die Autorin eindrücklich die Erinnerungen aus ihrer Kindheit Revue passieren lässt. Besonders hervorzuheben sind dabei die Erlebnisse aus Mehrnouschs Schulzeit in Heidelberg, die die SchülerInnen zur Perspektivübernahme einladen.

Das Werk behandelt sehr schwerwiegende und ernste Themen. Die authentisch beschriebenen Emotionen sowie traumatischen Erfahrungen der Familie, erzählt aus der Perspektive des Kindes, gehen dem Leser sehr nahe. Zugleich wird jedoch die Schwere des Erzählten durch die Schilderung kindlicher Gedankengänge abgemildert, was die Lektüre erleichtert:

Die Erwachsenen sprachen von „Gehirnwäsche“. Ich stellte mir die schlimmsten Dinge darunter vor. Es war mir ein Rätsel, warum die Jungs sich freiwillig das Gehirn waschen ließen. Ich dachte, das müsste doch wehtun. (S. 52)

Die Autobiografie eignet sich damit gut, um Flucht und Fluchterfahrungen zu thematisieren. Die Ereignisse in Deutschland, vor allem die in der Heidelberger Schule, bieten den SchülerInnen Potenzial, die Perspektive eines Flüchtlingskindes nachzuvollziehen. Gleichsam kann durch die Auseinandersetzung mit dem Text für einen achtsamen Umgang mit MitschülerInnen mit Fluchterfahrungen sensibilisiert werden. Reale Erlebnisse und die historisch detailgetreue Darstellung führen dazu, dass man ein realistisches Bild der vollzogenen Flucht erhält.

Empfehlenswert ist das Buch für den Einsatz in der Unterstufe bis in die Sekundarstufe I. Im Deutschunterricht kann dabei eine sukzessive Heranführung an rhetorische Stilmittel erfolgen, da sich die Autorin vielfältiger rhetorischer Mittel bedient. Ebenso erhalten die SchülerInnen kindgerechte Zugänge zu literarischen Narrationen und können weitere literarische Erfahrungen im Umgang mit poetischer Sprache gewinnen. Hier ein Beispiel für die poetische Sprache des Werks, die den LeserInnen zu intensiver Vorstellungsbildung einlädt:

Unser Hochhaus erhob sich ganz allein aus einem Wolkenmeer. Der Nebel war so tief gesunken, dass unser Stockwerk und unsere Fenster darüberlagen. Das warme orangefarbene Licht der Straßenlaternen beleuchtete den Nebel von unten. Unser Hochhaus war ein riesiger einsamer Turm, der hoch oben aus den Wolken ragte. Wie ein Turm der Riesen. […] Es war, als ob ich fliegen würde. Als ob ich eine geflügelte Traumprinzessin in einem Turm wäre. (S. 76)

So kann auch – in Vorbereitung auf den Unterricht in der Sekundarstufe II – mit dem Werk eine Sprachanalyse initiiert werden.

„33 Bogen und ein Teehaus“ kann nicht nur im Deutschunterricht gelesen werden. Aufgrund der historischen, sozialen sowie geografischen Bezüge lassen sich fächerübergreifende Unterrichtsreihen konzipieren: Denkbar sind Kooperationen mit den Fächern Philosophie / Ethik, Sozial- und Erdkunde sowie Geschichte.


Mehrnousch Zaeri-Esfahani: 33 Bogen und ein Teehaus. Wuppertal: Peter Hammer Verlag 2016.

Verlagsseite:
https://www.peter-hammer-verlag.de/buchdetails/33-bogen-und-ein-teehaus

Leseprobe:
https://www.book2look.com/book/bsfppFK3dh

Zielgruppe:
ab 12 Jahre / 7.-8. Klasse        

Rekonstruktion & Nachvollzug der Fluchtstationen Mehrnouschs

Leitfrage: Welche Erinnerungen prägen die verschiedenen Stationen von Mehrnouschs Fluchtweg? Welche einprägsamen Orte oder Erlebnisse schildert sie und was verbindet sie damit?

Die Idee: In Gruppenarbeit soll der Fluchtweg rekonstruiert werden mit allen Stationen und den Erinnerungen, die Mehrnousch geprägt haben. Dafür sammeln die SchülerInnen Bilder von den realgeografischen Orten, Zitate aus dem Buch und weitere Zusatzinformationen und gestalten damit ein Plakat. Die SchülerInnen sollen ein umfangreicheres und realistischeres Bild von den verschiedenen durchreisten Ländern und den Lebensumständen gewinnen. Die Bildersuche soll dabei interpretatorische Setzungen der SchülerInnen zum Ausdruck bringen. 

Erarbeitung: Die Klasse wird in Gruppen aufgeteilt. Jede Gruppe behandelt eine Station der Flucht. Somit werden fünf Gruppen geformt. Da das Kapitel zum Iran sehr umfangreich ist, können zwei Gruppen gebildet werden.

Aufgaben:


  1. Lest euch, wenn nötig, nochmal den Textabschnitt zu der Fluchtstation durch.
    • Iran: S. 15-66
    • Türkei: S. 67-78
    • Deutschland: S. 79-141
      • Berlin: S.80-109
      • Karlsruhe: S.110-117
      • Heidelberg: S.119-146
  2. Markiert euch wichtige Zitate, in denen Mehrnousch negative sowie positive Erfahrungen gesammelt hat und von denen ihr denkt, dass sie für sie sehr wichtig waren.
  3. Geht an die Computer und recherchiert nach passenden Bildern zu den Stationen.
  4. Gestaltet ein Plakat zu Eurer Station von Mehrnouschs Fluchtweg [dies kann analog mit Papier und entsprechenden Materialien geschehen oder digital, bspw. über den Anbieter FLINGA, https://flinga.fi/)]. Malt zunächst den Umriss des Landes (Ihr könnt auch einen Vordruck aus dem Internet verwenden) und markiert den Ort, an dem die Familie Zaeri gelebt hat. Den Umriss füllt Ihr nun mit Bildern, Zitaten und Stichpunkten, die eurer Meinung nach das Leben der Familie dort repräsentieren. Ihr könnt bsw. die Städte durch ihre jeweiligen Wahrzeichen symbolisieren oder ihr gestaltet/findet Bilder, die wichtige Elemente aus Mehrnouschs Leben spiegeln. Zusätzlich könnt Ihr neben dem Umriss des Landes noch wichtige Eckdaten zu den Ländern und Städten notieren.
  5. Im Anschluss stellt ihr euch im Plenum die Plakate gegenseitig vor.
  6. Diskutiert dann, welche Orte Mehrnousch positiv in Erinnerung hat und welche eher negativ. Wo finden sich die jeweiligen Erinnerungen in den erstellten Plakaten wieder?

  7. Anregungen zu einem vertiefenden Gespräch
    Abschließend kann im Klassenverband die Frage diskutiert werden, ab welcher der Fluchtstationen sich Mehrnousch angekommen und angenommen fühlt und welche Textstellen dafürsprechen. Gemeinsam können auf einem Zeitstrahl die wesentlichen Ereignisse, aufgrund denen Mehrnousch ein Heimatgefühl entwickelt, markiert werden [auch dies kann analog an der Tafel oder auf einem Plakat oder digital über ein Tool kollaborativen Arbeitens geschehen]. Ausgehend von dem Kapitel „Heidelberg“ (S.119-146), das ggf. noch einmal gemeinsam gelesen wird, kann daraufhin diskutiert werden, welche Anregungen die autobiographische Fluchtgeschichte bietet, neue MitschülerInnen zu unterstützen, die noch nicht deutsch sprechen.

Geforderte / geförderte Kompetenzen: Recherchekompetenz, intensive Textarbeit, geografische Verortung, Reflexion der Lebensumstände in den verschiedenen Fluchtstationen, Perspektivübernahme

Arbeitsform: Gruppenarbeit

benötigte Medien / Material: Computer, Drucker, Plakat

Taschenbuchausgabe:
https://www.carlsen.de/taschenbuch/33-bogen-und-ein-teehaus/978-3-551-31746-9

Materialien aus Mehrnousch Zaeri-Esfahanis „Denkwerkstatt“:
http://www.zaeri-autorin.de/referentin/material-aus-der-denkwerkstatt/

Unterrichtsmaterialien:
http://www.zaeri-autorin.de/site/assets/files/1127/unterrichtsmodell_carlsen_fertig_januar_2019.pdf

    Sekundärliteratur:


    • Kristina Krieger-Laude (2017): Mehrnousch Zaeri-Esfahani: 33 Bogen und ein Teehaus (2016). Wenn die Heimat fremd wird — eine Flucht von Iran nach Deutschland. In: Flucht-Literatur. Texte für den Unterricht. Bd. 1: Primarstufe und Sekundarstufe I. Hg. v. Dieter Wrobel und Jana Mikota im Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren 2017, S.198-204.
    • Dieter Wrobel (2018): ‚… ein Gefühl aus Angst, Mutlosigkeit und Schmutz …‘ : Fluchtnarrativ in Mehrnousch Zaeri-Esfahanis ‚Das Mondmädchen‘. In: Der Deutschunterricht 70, S. 67-76.