Haifaa Al Mansour: Das Mädchen Wadjda

© Koch Media, 2012
Von Ann-Kathrin Venz

Inhalt

Die zehnjährige Wadjda besucht eine Schule in Riad, Saudi-Arabien. Es fällt ihr schwer, sich an die Regeln der Schule zu halten: Der Verkauf von Kassetten und Armbändern sowie die Mithilfe bei einem verbotenen Date bringen Wadjda in Schwierigkeiten. Als Wadjda eines Tages in einem Spielwarengeschäft ein grünes Rad entdeckt, wächst in ihr der Wunsch dieses Fahrrad zu besitzen. Die Mutter, mit der Wadjda allein zusammenlebt, während ihr Vater auf der Suche nach einer Zweitfrau ist, versucht Wadjda den „aberwitzigen Plan“ auszureden, da das Radfahren für Mädchen verboten ist. Wadjda beschließt, am Koran-Wettbewerb teilzunehmen und von dem Preisgeld das Fahrrad zu kaufen. Sie wandelt sich zu einer vorbildlichen, strebsamen Schülerin, die sich schließlich im Wettbewerb gegen ihre Konkurrentinnen durchsetzen kann. Als sie erzählt, dass sie mit dem Preisgeld das Rad kaufen möchte, erkennt die Schulleiterin ihr das Geld jedoch ab. Zum Schluss schenkt die Mutter, die nun nicht mehr die einzige Ehefrau ihres Mannes ist, Wadjda das Rad. 

Fachwissenschaftliche Überlegungen

Al Mansour präsentiert in ihrem Film mit Wadjda eine schlagfertige Heldin, die in der religiös-patriarchalen Gesellschaft Saudi-Arabiens für ihren Traum kämpft, auf einem eigenen Rad durch die Straßen Riads zu fahren. Zum Erreichen ihres Traumes schreckt Wadjda nicht davor zurück, Regeln und Traditionen zu brechen sowie Herausforderungen selbstbewusst anzunehmen. 

Das grüne Fahrrad symbolisiert einerseits die Hoffnung auf Emanzipation und Freiheiten. Gleichzeitig repräsentiert das Fahrrad auch die aktuellen Ungerechtigkeiten und unterschiedlichen Stellenwerte von Frauen und Männern in der saudi-arabischen Gesellschaft. Dies wird besonders in einem Dialog zwischen Wadjda und ihrem Freund Abdullah deutlich:

Wadjda:„Wir beide sind erst quitt, wenn ich ein Rad habe und dich damit im Rennen schlage.“
Abdullah:„So ein Quatsch, du als Mädchen darfst überhaupt kein Rad fahren. Das weißt du doch!“ 
Wadjda:„Ja und dann wird es für dich erst recht peinlich, wenn ich dich abhänge!“

Dass Wadjda am Ende des Films tatsächlich gegen Abdullah gewinnt, bestätigt auf der Ebene der Filmerzählung einen kleinen Fortschritt der Gleichberechtigung. Darüber hinaus konnte der Film, der insgesamt die erste große saudi-arabische Filmproduktion ist, dazu beitragen, dass das Radfahren Frauen in Saudi-Arabien seit 2013 eingeschränkt gestattet ist. 

Stimmt die Geschichte von Wadjda hoffnungsvoll auf eine gleichberechtigte Gesellschaft, so zeigt sich gleichzeitig durch die Suche von Wadjdas Vater nach einer Zweitfrau der Fortbestand traditioneller Familienkonzeptionen und die Abhängigkeit von Frauen. Da Wadjdas Mutter keine Kinder mehr gebären kann und der Vater noch einen Sohn möchte, befindet der Vater sich auf Brautsuche. Der Wunsch von Wadjdas Mutter, die einzige Frau an der Seite ihres Mannes zu bleiben, wird am Ende des Films durch die zweite Hochzeit zerstört.

Insgesamt lernen die Zuschauer*innen im Film verschiedene Mädchen und Frauen kennen, die sich nicht eindeutig als „konservativ“ oder „modern“ klassifizieren lassen. Vielmehr wird gezeigt, dass Menschen zwischen verschiedenen Werthaltungen und Welten balancieren und dass Traditionen und sich wandelnde Lebenskonzepte gleichberechtigt koexistieren. Insbesondere in der Figur der Schulleiterin Wadjdas wird dieser Balanceakt personalisiert, indem sie bei ihren Schülerinnen besonders auf das Einhalten religiöser Werte achtet, während ihr privat eine Affäre nachgesagt wird. Auch Wadjdas Mutter schwankt zwischen verschiedenen Ansichten: Zunächst hält sie Wadjdas Traum vom eigenen Rad für einen „aberwitzigen Plan“, den sie sich aus dem Kopf schlagen solle. Schließlich kauft sie ihrer Tochter aber das Rad. Während sich ihr eigener Wunsch nicht erfüllt, hilft sie Wadjda bei der Erfüllung ihres Traumes. Die Diversität der weiblichen Charaktere skizziert ein authentisches Bild eines sich wandelnden Landes, das zwischen Traditionen und Freiheitsbegehren balanciert. 

Durch die kindliche Perspektive Wadjdas stellt die Regisseurin ein wenig bekanntes Land auch für ein junges Publikum zugänglich dar. Insbesondere Wadjdas Alltag sowie ihr Traum vom eigenen Fahrrad stehen im Mittelpunkt, während Probleme der Erwachsenenwelt, wie beispielsweise die erneute Hochzeit von Wadjdas Vater oder der politische Wahlkampf von Abdullahs Onkel, durch Wadjdas kindliche Perspektive bestimmt werden.

Das grüne Rad ist Symbol für bestehende Ungleichheiten und zugleich für Hoffnung auf Emanzipation und Freiheit.
Auf dem Dach erfüllt sich Wadjdas Traum eines eigenen Rades und auf dem Dach wird der Traum der Mutter, die einzige Ehefrau zu bleiben, zerstört.
Dass Wadjdas Name nicht im Familienstammbaum auftaucht, zeigt den unterschiedlichen Stellenwert von Söhnen und Töchtern, dazu Wadjdas Mutter: „Der ruhmreiche Stammbaum deines Vaters. Du stehst nicht drauf Schatz. Da kommen nur Männer drauf.“
Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen
  • Eingeschränkte Freiheiten von Mädchen in ihrer Freizeit
  • Eingeschränkte Freiheiten von Frauen in der Berufswelt
  • Der Kampf um Anerkennung von Frauen in Saudi-Arabien
  • Höherer Stellenwert von Söhnen in konservativen Familien
Familie und Freundschaft
  • Eheschließung im konservativen Islam und die daraus resultierende Abhängigkeit der Frauen
  • Mutter-Tochter-Beziehung
  • Alleinerziehende Mutter
  • Die Freundschaft zwischen Abdullah und Wadjda als ungewöhnliche Freundschaft in Saudi-Arabien
Bildung und Erziehung
  • Schulalltag in Saudi-Arabien
  • Einblicke in den Koran und den islamischen Religionsunterricht
  • Werte des Islams: Demut, Stille, Unauffälligkeit

Didaktische Überlegungen

Der Spielfilm „Das Mädchen Wadjda“ ermöglicht Schüler*innen Einblicke in eine ihnen wenig bekannte Kultur und ein fernes Land. Aufgrund der authentischen Konzeption der zehnjährigen Wadjda gibt es für die Schüler*innen viele Identifikationsmomente, die das ferne Saudi-Arabien nahbar und weniger fremd erscheinen lassen: Ihr Interesse an Musik, ihr Aufbegehren gegen Regeln in der Schule und ihre kleinen Konflikte mit der Mutter sind gut nachvollziehbar. Gleichzeitig ist Wadjda ein inspirierendes Vorbild, das dazu ermutigt, selbstbewusst für die eigenen Träume zu kämpfen. Klar ist jedoch, dass die Träume unserer Schüler*innen sich von Wadjdas Traum unterscheiden. Das für uns absurd erscheinende Radfahr-Verbot bietet eine gute Möglichkeit, um über Freiheiten und Ungleichheiten zwischen Mädchen und Jungen zu diskutieren. 

Der Film kann interkulturelles Lernen fördern, da die authentischen und facettenreichen Charaktere – und nicht die Fremdheit der konservativ-patriarchalischen Kultur Saudi-Arabiens – im Zentrum des Films stehen. Einerseits bietet der Film für Zuschauer*innen, denen der Islam wenig bekannt ist, einen Einblick in verschiedene religiöse Traditionen. Da sich Wadjda während des Films der Religion durch ihre Teilnahme an der Koran-AG selbst annähert, werden auch Zuschauer*innen, denen der Islam unbekannt ist, langsam an diesen herangeführt. Zugleich können gerade hier Identifikationsmomente für muslimische Schüler*innen liegen. Insgesamt bietet der Film die Möglichkeit für Anschlussgespräche über Religion.  

Die besondere Stärke des Films liegt darin, dass unterschiedliche Werte und Lebensweisen nicht verurteilt werden, sondern durch verschiedene Figuren als koexistierend repräsentiert werden. Somit kann eine tolerante Weltsicht gefördert werden. Dies ist insbesondere auch für Kinder und Jugendliche in Deutschland wichtig, unter denen viele ursprünglich der arabischen Kultur angehören oder in alltäglichem Kontakt mit ihr stehen.

Gemeinsame Einblicke in die Entstehung des Films und in Leben und Wirken der Regisseurin Hayfa Al Mansour können die Diskussion über Freiheiten und Gleichberechtigungen im Unterricht von der literarischen Ebene lösen und auf eine real-politische Ebene übertragen. Hier bietet sich auch die Thematisierung der Aufhebung des Fahrradverbots für Frauen im Jahr 2013 an. Für ältere Schüler*innen bietet sich die Diskussion von Film und Literatur als Instrument der politischen Einflussnahme an. Die Spiegelung des literarischen Stoffes in der Realität ermöglicht den Einsatz des Films auch in höheren Klassenstufen. Das Interview mit der Regisseurin auf SRF Kultur – Sternstunde Religion bietet sich an, um voranschreitende Veränderungen in Saudi-Arabien zwischen 2013 und 2020 zu betrachten und der Fragestellung nachzugehen, was sich im Alltag eines Mädchens in Riad sieben Jahre nach Filmentstehung verändert haben könnte. 

Auf der ästhetischen Ebene zeichnet sich der Film durch eine klare und simple Konzeption aus. Die zentralen Metaphern können auch von jüngeren Schüler*innen erkannt und analysiert werden: Dazu zählen neben dem Rad als Freiheits-Symbol das Hausdach als Ort der Freiheit und Träume sowie Wadjdas schwarze Converse-Schuhe als Symbol der Rebellion. 


Leitfrage: Wie würde Wadjda deinen Alltag wahrnehmen?

Die Idee: 
Durch den Film lernen wir Wadjdas Alltag in Saudi-Arabien kennen und merken, dass sich ihr Alltag in vielen Aspekten von unserem unterscheidet. Jedoch liegen auch einige Gemeinsamkeiten vor. Ziel der Aufgabe ist es, neben den Unterschieden auch die Gemeinsamkeiten wahrzunehmen. Dazu sollen die Schüler*innen ihren eigenen Alltag aus Wadjdas Perspektive betrachten und alltägliche Situationen, die Wadjda auffallen könnten, in Fotos festhalten. 

Geforderte / geförderte Kompetenzen:
interkulturelles Lernen; Perspektivübernahme / Perspektivwechsel; Reflexion des eigenen Alltages

Arbeitsform:
Partner- oder Gruppenarbeit 

Benötigte Medien / Material:
Kamera (Handy / Tablet)

Aufgabe:
Stellt euch vor, Wadjda besucht euch in Deutschland und begleitet euch an einem ganz normalen Schultag. Was würde ihr wohl besonders auffallen? 

Macht vier Fotos von alltäglichen Situationen. Dabei sollen zwei Fotos Gemeinsamkeiten zwischen Wadjdas Leben in Saudi-Arabien und deinem Leben in Deutschland zeigen und zwei Fotos Unterschiede.

Erstellt zu den Fotos Instagram-Beiträge und erklärt in Stichworten, was Wadjda aufgefallen ist. Dazu könnt ihr die folgenden Hashtags verwenden, oder euch selbst welche überlegen.

# wie in meiner Heimat Saudi-Arabien 
# sowas hab ich noch nie gesehen

Al Mansour, H. (Regisseurin) & Meixner, G. & Paul, R. (Produzenten) (2012). Das Mädchen Wadjda. Saudi-Arabien: Koch Media.  (Länge: 96 Minuten)

Trailer:
https://www.youtube.com/watch?v=d1ETAYu31yE

Streaming Möglichkeiten:
verfügbar u. a. über Amazon Prime Video, Google Play, iTunes, Sky Store Maxdome

Zielgruppe:
ab 10 Jahre / 5.-7. Klasse

Das Buch zum Film:
Hayfa Al Mansou: Das Mädchen Wadjda. Aus dem Amerikanischen von Catrin Frischer. München: cbj 2017.

Journalistische Beiträge:

  • Haifa al Mansour im Interview, Sternstunde Religion/ SRF Kultur (15.03.2020):
    https://www.youtube.com/watch?v=x-mSqVLuYrE (Dauer: 28 Minuten)

    Das Interview thematisiert die Veränderungen, die in Saudi-Arabien zwischen 2012 und 2020 stattfanden. Der Stellenwert von Kunst und Kultur in Saudi-Arabien wird diskutiert. Die junge saudische Bevölkerung wird als modern charakterisiert. Außerdem wird besprochen, inwiefern Kunst eine politische Komponente hat. Das Interview eignet sich besonders, um den voranschreitenden Wandel in Saudi-Arabien aufzuzeigen und die Aktualität des Films Das Mädchen Wadjda in 2022 zu reflektieren. 

Unterrichtsmaterialien: