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Thomas Harding: Future History 2050

© Jacoby & Stuart, 2020
Von Caroline Roßbach

Inhalt

Als dem Historiker Thomas Harding 2020 bei Recherchen im Berliner Landesarchiv ein Stapel Notizhefte in die Hände fällt, traut er zunächst seinen eigenen Augen nicht: Ein Mädchen aus London namens Billy Schmidt scheint in größter Sorgfalt die Geschichte der KOMMENDEN dreißig Jahre, also bis in das Jahr 2050 hinein, für ihre Nachwelt festgehalten zu haben. Der Wissenschaftler unterzieht die Dokumente einer quellenkritischen Prüfung und kommt zu dem verblüffenden Ergebnis: Sie sind tatsächlich echt! Doch wie kann es möglich sein, dass uns eine erst im Jahr 2035 geborene Teenagerin von unserer Zukunft berichtet? Erst am Ende der Geschichte löst sich dieses Rätsel: Billy findet mit der Hilfe eines Freundes eine Möglichkeit, ihre Notizhefte in der Zeit zurückzuschicken, damit die Menschen in der Vergangenheit ihre Geschichte lesen können und wissen, „dass sie etwas tun müssen. Denn wenn sie es nicht tun würden, wären die Folgen vernichtend.“ (S. 186)

Um ihre Leser:innen über große „Probleme, Aufgaben und existenziellen Bedrohungen“ (S. 183) aufzuklären, hat die geschichtsbegeisterte und wissbegierige Billy mit ihrer Großmutter Nancy eine Reihe von Interviews geführt. Die Jahre 2020 bis 2050 werden dabei themenbezogen abgehandelt und Billy kommentiert die neu gewonnenen Erkenntnisse im Anschluss an das niedergeschriebene Wortprotokoll auch aus ihrer persönlichen Perspektive. Zunehmend erkennt die Teenagerin, dass es des „mutige[n] Handeln[s] einiger weniger Individuen und Gruppen“ (ebd.) bedarf, um all die negativen Entwicklungen ihrer Zeit bis hin zu einem drohenden Klimakollaps gerade noch rechtzeitig aufzuhalten, bevor es dafür zu spät ist. Dass sie wegen ihrer Enthüllungen sogar ihre eigene Freiheit aufs Spiel setzt und es dabei mit mächtigen politischen Widersachern zu tun bekommt, wird Billy erst klar, als sie schon fest entschlossen ist, die Zukunft zu retten…

Fachwissenschaftliche Überlegungen

Unsere postmoderne Gesellschaft sieht sich gegenwärtig mit diversen Herausforderungen konfrontiert: Der rasante Klimawandel und unser verändertes Leben in Zeiten der Corona-Pandemie, aktuell sind dies wohl die drängendsten Krisen von globaler Dimension. Obendrein geben die weltweiten politischen Entwicklungen großen Anlass zur Sorge: „Demokratie weltweit unter Druck: Zahl der autoritären Regierungen steigt weiter“, so titelt die Bertelsmann Stiftung in ihrem Online Blog am 23. Februar diesen Jahres. „Erstmals seit 2004 verzeichnet unser Transformationsindex mehr autokratische als demokratische Staaten“. 

Vor diesem Hintergrund darf es nicht verwundern, dass insbesondere die jüngere Generation der 14- bis 29-Jährigen verunsichert und sorgenvoll in die eigene Zukunft blickt, wie die Trendstudie „Jugend in Deutschland“ 2022 von Simon Schnetzer und Klaus Hurrelmann eindrücklich belegt. Die Unzufriedenheit vieler junger Menschen mit manch zukunftsweisender Entscheidung (s. Instagram-Post [M4]) seitens der politischen Verantwortungsträger:innen spiegelt sich nicht zuletzt in ihrem öffentlichkeitswirksamen Engagement innerhalb bekannter Jugendorganisationen wie Fridays for Future wider. 

In diesem thematisch-gedanklichen Rahmen inszeniert Thomas Harding mit seinem – für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominierten – Werk Future History 2050 ein dunkles Zukunftsszenario.

M 4

Im Stil der Montage collagiert er höchst authentisch die dystopische Vision unserer „Geschichte der Zukunft“ und verhandelt dabei tatsächliche Geschehnisse der außerliterarischen Realität. Einleitend richtet Thomas Harding in seiner fiktiven Rolle als Geschichtswissenschaftler und Herausgeber der Future History 2050 einige Worte an seine Rezipient:innen. Der fiktive Editor gibt darin eine genaue Erklärung zu seinem wissenschaftsorientierten Vorgehen und zu seiner intrinsischen Motivation, die ihm vorliegenden Dokumente einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen zu wollen.

Die Aufgabe, die ich mir [Historiker namens Thomas Harding] stellte, war diese: Wenn ich noch bei der letzten Seite glauben würde, dass diese Artefakte – ich muss gestehen, dass ich den Heften bereits einen solchen respektvollen Namen gab – eher real als dies nicht waren, musste das für mich als Wissenschaftler bedeuten, dass die Hefte tatsächlich die Geschichte der Zukunft beinhalteten. (S. 8)

Auf jeweils sechs bis zehn Buchseiten folgen die Wortprotokolle der geschichtsinteressierten Teenagerin Billy, in welchen ihre „Grandma“ von den für sie wichtigsten historischen Ereignissen eines Jahres (2020 bis 2050) berichtet („Aber Bücher und alte Filme zu gucken reicht nicht. Besser ist es, Geschichte direkt von denen zu erfahren, die sie selbst erlebt haben.“ S. 18). Vereinzelt sind Quellen und Darstellungen (wie Fotos, Plakate, Ansichtskarten etc., gestaltet von Florian Toperngpong) in den Hybridtext eingeflochten und lassen die Dokumentationen umso glaubwürdiger erscheinen. 

Besonders vielschichtig ist der Text auch deshalb, weil jedem Interviewprotokoll eigene Anmerkungen, Werturteile oder kleinere Anekdoten von Seiten der Teenagerin folgen. Zum einen gelingt es dem Autor dadurch, die schwere inhaltliche Thematik für einen Moment aufzubrechen und seine Leser:innen zum Schmunzeln zu bringen, zum anderen fließt eine zweite, sehr persönliche Perspektive mit ein – denn die Figur Billys steht stellvertretend für die Generation der gerade Heranwachsenden.

Auf geschickte Weise gelingt es Harding, die zeitgeschichtlichen Entwicklungen der letzten Jahre aufzunehmen und den aktuell brennenden Generationenkonflikt (insb. Fragen der sog. Klimagerechtigkeit) narrativ zu verhandeln. Die Versäumnisse älterer Generationen in (klima-)politischen Fragen und deren beängstigenden Auswirkungen auf die Lebensrealität der kommenden Generationen, dies stellt die tiefere Thematik des Jugendromans dar.

Mein [Teenagerin Billy Schmidt] anderer Traum ist zu reisen. Wir können uns nur in den nichtüberfluteten Zonen bewegen, aber es gibt ja noch jede Menge andere attraktive Reiseziele. Doch den City Tower zu verlassen ist teuer. Die Energie, die selbst für eine kurze Reise verbraucht wird, ist sehr groß. Ich spreche natürlich von Straße und Schiene, denn Flugzeuge sind bekanntlich seit 2029, dem Höhepunkt der Klimakatastrophe, wir nennen ihn den SHOCK, verboten. (S. 16)

Gesellschaft und Familie
  • Alltagsgewohnheiten
  • Sport (Olympiade)
  • andere Freizeitaktivitäten
  • (Massen-)Unterhaltung und Medien
  • Sprachwandel
  • Leihmutterschaft
  • Versäumnisse älterer Generationen
Technik, Handel und Wirtschaft
  • Moderne „Quantencomputer“
  • Automatisierung
  • Werbung und Einkaufserleben
  • Fleischkonsum
  • Schwarzmarkt
Politik und Sicherheit
  • Entstehung des politischen Systems
  • „Anständiges Grundeinkommen“
  • „behördliches Gefängnissystem“
  • Parlamentarisches System („Weltparlament“)
  • Netzkriege (siehe II.)
  • Populismus
  • Totalitärer Überwachungsstaat
Gesundheit
  • Digitalisierung der Medizin (siehe II.)
  • Virusepidemien
Wohnen und Mobilität
  • Siedlungen auf dem Mond
  • Leben und Reisen in „nichtüberfluteten Zonen“
  • Verbot von Flugzeugen

Didaktische Überlegungen

Thomas Harding vermag es mit der Konzeption seiner Romanfiguren und deren „Geschichte aus der Zukunft“, sowohl die individuellen Sorgen und Ängste jedes/r Einzelnen vor der persönlichen Zukunft (ich-bezogen) wie auch die vor dem Zustand unserer Welt im Allgemeinen (global) anzusprechen. Die detailreichen Erzählungen aus den Augen seiner jungen Protagonistin bestechen durch den teils faktenbasierten Realitätsbezug und die brennend aktuellen Themen. Wenn es etwa darum geht, dass aufgrund sich verändernder klimatischer Bedingungen nicht länger die Möglichkeit des grenzenlosen Reisens besteht oder weite Teile der Weltbevölkerung aufgrund sozio-ökonomisch ungleicher Bedingungen stärker unter der Klimakatastrophe zu leiden haben als etwa die wohlhabenden Stadtbewohner Londons. Insbesondere der flammende Appell der jungen Hauptfigur an ihre Rezipient:innen, das eigene Verhalten im Sinne nachkommender Generationen zu überdenken und somit die Zukunft zu erhalten, unterstreicht den Aspekt des solidarischen Miteinanders (Stichwort: Generationengerechtigkeit).

Die von der Future History berichtende Teenagerin Billy Schmidt kann den jugendlichen Rezipient:innen als Projektionsfigur dienen. Proaktiv greift sie in das Geschehen ein und versucht, sich persönlich für eine bessere Zukunft einzusetzen – auch gegen äußere, politische Widerstände. Inspiriert von der reflektierten Wahrnehmungsweise Billys können die Schüler:innen eigene Gedanken und Ideen in das textbasierte Unterrichtsgespräch einfließen lassen (vgl. die Vertiefungsidee im Lehr-Lern-Arrangement). Auch den individuellen Ängsten der Heranwachsenden sollte hier ausreichend Raum gegeben werden (mögl. Einstiegs- bzw. Erzählimpluse siehe [M1-3]). 

Nachdem die Lernenden alles über die Lebensrealität Billys erfahren haben, gilt es, das große Identifikationspotenzial produktiv umzusetzen. In stilistischer Anlehnung an das narrative Muster des Romans bietet es sich an, dass die Schüler:innen – wie Billy – persönliche Anmerkungen zu einzelnen Jahresprotokollen verfassen und dann über diese in einen Austausch miteinander treten. 

M1
M2
M3

Praktisch-lebensweltliche Bezüge – auch für einen optimistischeren Ausblick – bietet das Nachdenken über klimapolitische Fragen (die Umweltkatastrophe wird im Roman als ‚SHOCK‘ bezeichnet) und ein mögliches Engagement der Jugendlichen etwa im schulischen Umfeld (interdisziplinäre Projektwochen u. ä.) oder in großen Jugendorganisationen wie Fridays for Future kann thematisiert werden.


Die Idee:
Die Lernenden sollen dazu angeregt werden, sich näher mit den im Roman skizzierten Zukunftsvisionen – die viele außerliterarische Lebensweltbezüge aufweisen – auseinanderzusetzen und sich an die Seite der Hauptfigur Billy zu imaginieren. Die Teenagerin hinterfragt die Entwicklungen ihrer Zeit kritisch und macht persönliche Anmerkungen zu den Wortprotokollen eines jeden Jahres. (S. 27: „Ich habe beschlossen, mir eigene persönliche Notizen zu machen, meine eigenen Kommentare und alles mögliche Interessante, das mir dazu einfällt.“)

Mögliche Umsetzungsperspektive:
Die Schüler:innen verfassen unter thematisch-inhaltlichem Rückbezug auf eine der unten angegebenen Textstellen und den darin verhandelten dystopischen Szenarien weitere Kommentare im Stile Billys.

Textanbindung (ausgewählte Textstellen, die konkret die außerliterarische Realität der Schüler:innen verhandeln)

Grandma Nancy zum Jahr 2020:
„Und dann verbreitete sich auch noch ein schrecklicher Virus auf der ganzen Welt, tötete Millionen von Menschen [6,29 Mio. weltweit, Stand: 31.05.22] und verursachte wirtschaftliche und soziale Verwüstungen. Die Menschen waren viele Monate im Lockdown, bis endlich Impfstoffe verfügbar waren.“ (S. 25)

Billys Kommentar darauf [zur Pandemie gibt sie an dieser Stelle keinen Kommentar ab]: „Und was sie über die Klimakrise erzählt hat, war wieder typisch Großma Nancy. Sie redet dauernd vom Ende der Welt und davon, wie das Leben besser war, als sie noch Kind war. […]“ (S. 27)

Grandma Nancy zum Jahr 2031:
„Jahrzehntelang schon hatten Wissenschaftler:innen vorhergesagt, dass die durchschnittliche Temperatur auf der Erde bis zum Jahr 2100 um vier Grad ansteigen würde, wenn wir unsere Lebensweise nicht dramatisch änderten. Schon ab 2026 ging die Temperaturkurve scharf nach oben, gute siebzig Jahre früher als angekündigt. Deshalb nannten wir das den SHOCK. Es gab viele Theorien für das, was vor sich ging. Am überzeugendsten war die, dass verschiedene Kipppunkte gleichzeitig erreicht wurden […].“ (S. 78)

Billys Kommentar darauf: „Ich habe Großma Nancy gefragt, wieso sie nichts getan hat, obwohl doch so deutlich war, dass der SHOCK kommen würde. Sie blickte mich finster an und stürmte davon. […] Gerade als ich überlegte, was jetzt wohl passieren würde, kam sie zurück, mit ein paar Briefen in der Hand, die sie mir gab. Und dann war da noch ein Stapel Postkarten […]. Sie waren alle mit Bildern von Venedig bedruckt, einem Ort, von dem ich noch nie gehört hatte. Ich habe den Namen im All-In-One nachgeguckt, und da hieß es, dass Venedig endgültig während des Meeresspiegelanstiegs in den mittleren 2020er Jahren untergegangen ist.“ (S. 82)

Alternativen und Vertiefungsideen:

Die Schüler:innen können in diesem Lehr-Lern-Arrangement besonders gut zum kollaborativen Schreiben angeregt werden, indem sie jeweils Kommentare zu den Schreibbeiträgen der anderen verfassen und/oder diese in einer Schreibkonferenz durch eigene Ideen weiterentwickeln.

Mittels Impuls-Materialien und unter Rückbezug auf die beschriebenen Szenarien (siehe Textstellen zu klimapolitischen Fragen) könnte im Plenum vertiefend über mögliche Zukunftsängste der Schüler:innen gesprochen werden.

Wichtig erscheint dabei, dass aucheinem optimistischeren Ausblick Raum gegebenen wird. Ideen und Möglichkeiten zum aktiven Mitgestalten einer besseren Zukunft können/sollten ausgetauscht werden, um den dystopischen Zukunftsentwürfen, welche im Roman skizziert werden, die erdrückende Schwere zu nehmen. Auf diese Weise kann auch die Selbstwirksamkeit der jugendlichen Rezipient:innen akzentuieren werden.

Geforderte/geförderte Kompetenzen:
Perspektivübernahme bzw. Identifikationsfähigkeit mit der Hauptfigur Billy; Kreatives Schreiben durch narratives Verhandeln eigener Gedanken und Ideen

Arbeitsform:
Schreiben/Präsentieren erst in Einzelarbeit, dann Vorstellung in Kleingruppen, Schreibkonferenz  ( à entspricht gewünschtem Ansatz des kollaborativen Schreibens)

Benötigte Medien/ Materialien:
Einstiegsimpulse bzw. Vertiefung: Untenstehende Definitionen zu „Weltschmerz“ und „Zukunftsangst“ (M2 und M3) sowie Zitat zur „postmodernen Gesellschaft“ (M1)

Harding, Thomas: Future History 2050. Mit Illustrationen von Florian Toperngpong. Aus dem Englischen von Edmund Jacoby. Berlin: Verlagshaus Jacoby & Stuart 2020.

Verlagsseite:
https://www.jacobystuart.de/buecher-von-jacoby-stuart/jugendbuch/future-history-2050/

Leseprobe:
https://www.buchboxberlin.de/shop/item/9783964280664/future-history-2050-von-thomas-harding-e-book-epub#

Zielgruppe: 
ab 13 (Angabe Verlagsseite) /ab 15 Jahre (Angabe Arbeitskreis-DJLP)/ ≈ 8-10. Klasse

[M1] Online unter: https://sz-magazin.sueddeutsche.de/tag/gesellschaft (zuletzt am 16.03.2022)

[M2] Online unter: https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/zukunftsangst/17304 (zuletzt am 16.03.2022)

[M3] Online unter: https://lexikon.stangl.eu/20709/weltschmerz (zuletzt am 16.03.2022)

[M4] Online via Instagram @aurelmertz vom 22.03.2022 (zuletzt am 23.03.2022).